Die altniederländische Malerei.
Ihr Ursprung und Wesen
DuMont, 2 Bd., 885 Seiten
Erwin Panofsky hatte im Jahr 1933 das nationalsozialistische
Deutschland verlassen und war in die USA emigriert, wo er 1968 starb.
Alle wichtigen Schriften, die der renommierte Kunsthistoriker während
seiner Lehrtätigkeit am Princeton Institute for Advanced Studies
verfaßt hatte, wurden nach Ende des Zweiten Weltkriegs ins Deutsche
übertragen. Nur auf das Buch über die Bildkunst der alten Niederländer,
das Panofsky selbst als sein Hauptwerk angesehen hatte, mußte man
hierzulande fast 50 Jahre lang verzichten.
Den beiden
Kunsthistorikern Jochen Sander und Stephan Kemperdick ist es vor kurzem
gelungen, diese Lücke mit einer sorgfältigen und sprachlich versierten
Übersetzung zu schließen. Der Kölner DuMont Verlag hat sie unter dem
Titel Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und Wesen
als zweibändige Ausgabe im Schuber publiziert. Ausgestattet ist der
umfangreiche Textband mit knapp 50 Farbtafeln, deren Qualität selbst
den reproduktions-technisch widerspenstigen Gemälden eines Jan van Eyck
alle Ehre macht. Sogar das magische Funkeln von Jans Tafeln, das
Panofsky voller Entzücken beschwört, läßt sich beim Blick ins Buch
erahnen. Allerdings sollte man sich von der wohlfeilen Aufmachung
nicht täuschen lassen: Panofskys opus magnum ist kein Bildband, der
sich als visuelles Fastfood konsumieren ließe. Das Buch fordert die
Bereitschaft, den Ausführungen des Autors aufmerksam zu folgen und
parallel dazu den Bildkatalog mit über 500 Schwarzweiß-Abbildungen zu
studieren.
Erst dann kann man die Wandlungsprozesse
nachvollziehen, die mit der altniederländischen Malerei ein nordalpines
Pendant zur italienischen Frührenaissance hervorbrachten. Und dann
erschließt sich auch die Vorgehensweise Panofskys, der die Ikonologie
mitbegründete und zu einer Methode kunstwissenschaftlicher
Interpretation ausarbeitete. Sie hat das Ziel, die Beziehung zwischen
dem Kunstwerk und den zeitgenössischen Strömungen in Philosophie,
Religion, Politik und Gesellschaft zu ergründen. So wird aus dem
Kunstwerk ein Träger weltanschaulicher Bedeutung und ein Medium zur
Aneigung kulturgeschichtlicher Wirklichkeit.
Für Panofsky
beginnt die Geschichte der altniederländischen Malerei bereits im 14.
Jahrhundert, und sie fängt buchstäblich klein an: mit der französischen
und frankoflämischen Miniaturmalerei. Hier wurden als erstes die
neuen Stilelemente, die von den italienischen Malern seit Giotto und
Duccio hervorgebracht worden waren, aufgenommen. Dabei zeigt sich, dass
Kunstgeschichte aus ikonologischer Sicht nicht die Geschichte allein
der „großen Meister“ ist. Panofsky zeichnet den stilistischen Wandel in
kleinen und kleinsten Schritten sorgfältig nach – deshalb ist ihm Jean
Pucelle, Jacquemart de Hesdin oder der Boucicaut-Meister wichtiger
als die Brüder von Limburg, die für ihr berühmtes Stundenbuch, die
„Très Riches Heures du Duc de Berry“, an ihre Vorgänger anknüpften.
Über
vier Kapitel hinweg macht uns Panofsky mit den einzelnen Stationen bis
zur vollen Ausprägung des Naturalismus um 1420 vertraut. Drei Künstler
entwickelten ihn weiter und wurden so zu Hauptvertretern einer
nördlichen Frührenaissance: Jan van Eyck, daneben sein Bruder Hubert,
der „Meister von Flémalle“, hinter dem sich Robert Campin verbirgt,
schließlich Rogier van der Weyden, der vermutlich Campins Schüler war.
Den
detaillierten Künstler-Monographien geht eine Studie voraus, die als
Exempel ikonologischer Forschung bekannt wurde. Hier erläutert
Panofsky die realistisch „verkleidete Symbo-lik“ der alten
Niederländer, vorwiegend am Beispiel Jan van Eycks. Dessen Gemälde Madonna in der Kirche
etwa zeigt eine Maria, die zwar naturalistisch gestaltet ist, aber wie
eine Gigantin im Gotteshaus emporragt – als Verkörperung der
göttlichen Institution Kirche. Auch die Architektur ist mit Bedeutung
aufgeladen: die im romanischen Stil gehaltenen Bereiche des
Kirchenschiffs versinnbildlichen den Alten Bund und das Judentum; die
gotischen Gebäudeteile wiederum symbolisieren den Neuen Bund und das
Christentum. Jan hat die beiden Baustile in seinem Gemälde nahtlos
ineinander übergehen lassen, bei ihm sind die jüdische und die
christliche Religion versöhnt. In Bildern anderer Maler setzt die
Geburt des Neuen die Zerstörung des Alten voraus: Das Judentum wird als
romanische Ruine dargestellt, die dem unversehrten gotischen Bauwerk,
Symbol des „wahren“ christlichen Glaubens, weichen muß.
Im
Epilog des Buches weitet sich der Blickwinkel wieder: Panofsky gibt
eine Übersicht über die wichtigsten Strömungen der Malerei im Gefolge
der sogenannten „Gründungsväter“. Man liest über Errungenschaften und
Mißerfolge weniger bekannter Maler wie Petrus Christus, Dirk Bouts,
Hugo van der Goes oder Hans Memling. Bis zuletzt wird die
Mittler-Funktion der altniederländischen Malerei deutlich: So weist
beispielsweise die Nacht-Darstellung von Geertgen tot Sint Jans zurück
auf Versuche der Brüder von Limburg oder Piero della Francescas, und
sie geht dem Hell-Dunkel eines Georges de la Tour oder Caravaggio
unverkennbar voraus.
Die deutschsprachige Ausgabe von Panofskys
„Klassiker“ bringt in Erinnerung, dass die Ikonologie schon früh dazu
angeregt hat, die Kunstgeschichtsforschung für andere Wissenschaften zu
öffnen. Wiederholt wurden Panofskys Ansätze in diesem Sinne von
Kunsthistorikern und Soziologen aufgenommen. Der Mitbegründer der
Ikonologie fand sich sogar in die „Klassiker der Kunstsoziologie“
eingereiht. Gleichwohl sind viele Bezüge zu anderen Disziplinen
unentdeckt geblieben, sind die Möglichkeiten zum Austausch noch lange
nicht ausgeschöpft. Zudem kann man Panofskys Buch über die alten
Niederländer als vorbildliche Synthese der verschiedenen
kunstgeschichtlichen Methoden lesen – mit einer Einschränkung: Die
Ikonologie tendiert dazu, die visuell-ästhetische Erscheinungsweise des
Kunstwerks, die Analyse seiner Form, zu vernachlässigen. Aber gerade
weil Panofskys Buch über die altniederländische Malerei die Vorteile
und die Nachteile ikonologischer Forschung offenbart, kann die
vorliegende Übersetzung nicht hoch genug geschätzt werden. Sie fordert
dazu auf, die verborgenen Potentiale der Ikonologie aufzuspüren und
ihre Mängel zu beheben – kurz und gut: Erwin Panofskys Ansatz im Sinne
einer interdisziplinären Kunstwissenschaft weiterzuentwickeln.
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