Reihe/Nr: EVROPA
Art-Nr.: N-074489
Verlag: Comicplus
Format: Hardcover
Autor(en): Tomaz Lavric
Inhalt:
1999. Zile, ein Serbe, der alle Schweinereien der Jugoslawienkriege
mitgemacht hat, will im gelobten Europa ein neues Leben anfangen.
Dummerweise stützt er sich dabei auf einen Onkel, der in Dortmund der
Chef eines kriminellen Clans ist. Zile bekommt von Europa nur das
Schlechteste zu sehen.
"Evropa" ist das serbische Wort für Europa. Der Comic spielt im Jahr
1999, ersichtlich an der Bombardierung der Chemieanlagen von Pancevo
durch die NATO in diesem Jahr. Die Handlung umfasst etwa ein halbes
Jahr, vom Frühling bis zum Winter.
Der Serbe Dragan Tadic - gerufen Zile - begeht mit "Kriegskameraden" in
Belgrad einen Einbruch. Spontan und gewalttätig, wie er ist, erschießt
er den Polizisten, der sie dabei entdeckt. Er weiß, dass er in seiner
Heimat des Lebens nicht mehr sicher ist. Also nimmt er Kontakt zu seinem
in Deutschland lebenden Onkel Mile auf und macht sich auf den Weg nach
"Europa". Europa, das ist für ihn das Paradies. Hier, so glaubt er,
findet er ein anderes Leben als das, das er aus dem kriegsverwundeten
Jugoslawien kennt. Zile hat in diesem Krieg auf serbischer Seite
gekämpft. Die Erinnerungen, die ihn in der Nacht verfolgen (und die
Tomaz Lavric in farblich abgesetzten Rückblenden schildert), machen die
Rohheit und Menschenverachtung dieses Krieges deutlich.
Ziles Vater war Minenarbeiter, ein ehrsamer, der Meinung des Onkels nach
zu ehrsamer Mann, der es bei seinem frühen Tod zu nichts gebracht hatte.
Obwohl Zile vom Krieg geprägt wurde und bei jeder Gelegenheit sofort zur
Waffe greift, steckt in ihm doch ein Stück dieser Ehrsamkeit. Als er
erkennt, mit welchen Methoden der Onkel sein Geld verdient, weiß er: Das
ist nicht das Leben, das er sich in Europa erhofft hat. Er möchte ein
normales Leben führen, wenn möglich an der Seite von Snezana, einer
jungen Frau, die er im Betrieb des Onkels kennen und lieben gelernt hat.
Er muss rasch feststellen, dass Snezana nicht nur Kellnerin im Paradiso
ist. Die Bosnierin gehört zu den Frauen, die Onkel Mile nach Deutschland
geholt hat, damit sie für ihn anschaffen gehen, als Prostituierte.
Snezana fügt sich in ihr Schicksal, aber Zile will sie aus dieser
Umgebung befreien. Er will mit ihr nach Schweden, ein Land, von dem er
glaubt, dass dort Milch und Honig fließen. Um den Traum zu
verwirklichen, braucht er Geld, doch seine Kumpel in Belgrad, auf die er
so setzt, haben die gesamte (zusammengeraubte) Barschaft in Drogen
angelegt. Also nimmt Zile sich woanders, was er braucht: Bei Geld und
Autos fragt er nicht nach dem Eigentümer. Er ist nicht zimperlich, weder
in seinen Absichten noch in seinen Methoden.
Wir lernen in diesem Comic fast ausschließlich brutale und skrupellose
Menschen kennen. Fast könnte man denken, der Autor wolle all unsere
geheimen Vorurteile über die Bewohner des Balkan zusammenbringen - wäre
da nicht die Spur von Menschlichkeit, die sich in Zile, Snezana, aber
auch im Dicken (orig."Kugla") zuweilen Bahn bricht und den Leser
aufruft, die Welt aus der Perspektive dieser drei zu sehen. Snezana, die
nach dem misslungenen Schweden-Abenteuer von den deutschen Behörden
aufgegriffen wird, lässt sich lieber ins zerstörte Bosnien
zurückschicken, als weiter auf eine Chance in Europa zu hoffen. In
Bosnien, in Brcko, sucht Zile nach ihr, doch den Frieden, den sie in der
Gemeinschaft ihres Neffen Amir und in der Moschee gefunden hat, kann er
ihr nicht bieten.
Zile verzweifelt; Snezana war sein Strohhalm im Leben. Nun ist ihm alles
egal. Ob er das Minenfeld überlebt, das er durchqueren muss, nachdem ihn
sein "Kamerad" Radoje einer Bande von Räubern ausgeliefert hat, verrät
uns der Comic nicht. Die Auflösung der Geschichte geschieht allein in
unserem Kopf.
Tomaz Lavric sagt, anders als der Vorgänger "Bosnische Fabeln" sei
"Evropa" eher »ein klassischer Thriller als ein Kriegsdrama«. Ein
"Roadmovie" nennt er es an anderer Stelle. Das mag seine persönliche
Lesart sein - es ist allerdings unvorstellbar, wie man einen vom Krieg
aus der Bahn Geworfenen wie Zile beurteilen kann, ohne seine
Vorgeschichte mit einzubeziehen. Vorgeschichte, das heißt in diesem Fall
- und Lavric bringt es ja selbst in seine Handlung ein - die Prägung
durch die Kriegseignisse der Jahre 1991 bis 1999. "Unser Balkan ist
nicht mehr das, was er früher war", sagt Zile, um seine Flucht nach
Europa zu begründen. Das, was er vor dieser Zeit als Heimat empfunden
hat, gibt es nicht mehr.
Die Sehnsucht nach der (verlorenen) Heimat wird im Laufe der Handlung
immer wieder thematisiert. Der Dicke war lange nicht mehr "zu Hause",
und so fragt er Zile, was es Neues gibt. "Nichts Neues", antwortet der.
"Immer nur Krieg." Die Sängerin im Paradiso trifft den Nerv der
anwesenden Jugos, als sie eine Schnulze von dem verlorenen Zuhause zum
Besten gibt. Der Einwanderer, von dem der Dicke Schulden kassieren soll,
lamentiert, bevor er sich selbst erschießt, er habe die Heimat
verlassen. Radoje, der ja selbst zur Zerstörung der alten Ordnung
beigetragen hat, beklagt, er habe sich für sein Land (Serbien) geopfert.
Schuldig an der Katastrophe fühlt sich keiner; jeder sieht die
Ereignisse nur aus seiner Perspektive, ohne Mitleid mit dem Kriegsgegner.
So rasant und abwechslungsreich "Evropa" auch erzählt ist, so dreht sich
in diesem Comic im Grunde alles um den Krieg. Er hat nicht nur das Land,
die Heimat der Agierenden verändert, er hat sich auch tief in die Seelen
eingebrannt. "Evropa" ist ganz sicher ein Kriegsdrama. Ist es auch ein
Thriller oder gar Roadmovie, wie der Autor insistiert? Es ist kein
Politthriller; der Krieg ist grundlegend, aber Ziles Treiben ist nicht
politisch motiviert. Die Handlung ist "thrilling", der Leser wird immer
wieder mit Situationen überrascht, die den Protagonisten in Gefahr
zeigen. Zile besteht alle Prüfungen, indem er sie in der ihm eigenen
Manier mit Gewalt löst. Das trifft nicht nur auf das kriminelle Milieu
rund um Onkel Mile zu, es durchzieht alle drei Teile des Comics.
Und ein Roadmovie (eigentlich ein Filmgenre)? Zile ist auf der Suche
nach Selbstfindung. Dabei war es Tomaz Lavric offenbar wichtig, seinen
"Helden" möglichst weit herumkommen zu lassen. Obwohl Zile einen Ansatz
von Bildung erkennen lässt, spricht er nur seine Muttersprache. Andere
Idiome sind ihm fremd. Der Autor betont diesen Konflikt, indem er immer
wieder fremde Sprachen und verschiedene Nationalitäten einflicht; in der
Übersetzung - sowohl in der französischen als auch in der deutschen -
geht davon einiges verloren, sobald sich der Protagonist in ebendiesen
Ländern aufhält. Zile bleibt letztlich überall ein Fremder - nicht nur
in seinem eigenen Land.