Brigitte Lüchtemeier
Hermann-Ehlers-Gesamtschule Kamen (Hrsg.)
Spuren jüdischen Lebens in Kamen von 1900-1945
ISBN 978-3-929158-08-3
Bestellnr.: 00-08
144 Seiten, Format 21 x 20 cm, 50 farbige- und 121 sw-Abb., fester Einband
EUR 7,95 UVP
Dieses bemerkenswerte Buch zur jüngeren Kamener Stadtgeschichte ist entstanden
im Rahmen des Projektes "Zukunft ohne Vergessen" der Klassen 9B und 9E der
Hermann-Ehlers-Gesamtschule Kamen, das unter anderem mit dem "Henry Ford European
Conservation Awards 1998" ausgezeichnet wurde. Anhand von Zeitzeugengesprächen
und durch die Arbeit in verschiedenen Archiven entwickelte sich während des
Projektes eine Chronik aller jüdischen Familien in Kamen von 1900-1945. Die
Grußworte in diesem Buch wurden verfasst von Dr. Michel Friedman und
Dr. Henry G. Brandt. Die wichtigsten Passagen des Buches sind nach jedem Kapitel ins Englische
übersetzt.
LESEPROBE :
Grußwort von Dr. Michel Friedman
(Präsidiumsmitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland)
Zukunft ohne Vergessen bedeutet für mich: Auseinandersetzung mit der
Geschichte als Orientierung für die Gegenwart und als Grundlage für ein
auf der Würde des einzelnen Menschen basierendes künftiges Zusammenleben
in einer multikulturellen Gesellschaft.
Erinnerung ist aber hier nicht als Erinnerung allein der Vergangenheit
wegen zu verstehen. Die Einordnung von Geschichte als Orientierung für
heute und morgen macht die Erinnerung zum größten Instrument gerade für
die junge Generation, ihren Platz in der Gegenwart zu finden. Ich werde
wütend, wenn man jungen Menschen Angst vor Geschichte statt Lust auf
Geschichte und die Auseinandersetzung mit ihr macht. Denn ohne
Erinnerung gibt es keine Zukunft. Deshalb sehe ich es als eine meiner
wichtigsten Aufgaben an, engagierte Schülerinnen und Schüler darin zu
unterstützen, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen.
Geschichte ist aber nicht allein der Geschichtsunterricht in der Schule,
sondern auch all das, was wir über Menschen erfahren, die vor uns
gelebt haben, z.B. unsere Eltern, Großeltern oder Menschen, die in
unserer unmittelbaren Nachbarschaft gewohnt haben. Es geht immer um
Menschen und ihre Schicksale und nicht um eine Anhäufung von Zahlen.
Darum ist der Dialog zwischen Menschen verschiedener Generationen so
überaus wichtig.
Aus diesem Grunde finde ich das Projekt "Zukunft ohne Vergessen", das
von zwei neunten Klassen der Hermann-Ehlers-Gesamtschule initiiert und
ein Jahr lang in Zusammenarbeit mit Schülerinnen und Schülern der
Jüdischen Oberschule Berlin und der Gesamtschule Beeskow durchgeführt
worden ist, so ermutigend, denn es zeigt, dass die junge Generation zur
aktiven Auseinandersetzung mit einer Geschichte zu motivieren ist, unter
die viele Erwachsene gern einen Schlussstrich ziehen möchten. Ich
wünschte mir, dass es sehr viel mehr Lehrerinnen und Lehrer gäbe, die
genau das auch bei anderen Jugendlichen motivierten.
Dieses Projekt ist außerdem ein gutes Beispiel dafür, wie lebendig die
Beschäftigung mit der Geschichte sein kann. Ich finde es wunderbar, dass
hier nicht nur passiv gelernt wurde, sondern die beteiligten
Jugendlichen aus dem, was sie gelernt haben, aktiv etwas gestaltet haben
und das in so unterschiedlichen Bereichen wie Kunst, Theater,
Literatur, Musik, Religion und Geschichte. Gleichzeitig haben sie damit
einen lebendigen Beitrag zur Erinnerungsarbeit geleistet, indem sie in
vielen öffentlichen Veranstaltungen in einen Dialog mit anderen Menschen
getreten sind, Fragen gestellt und auf Antworten bestanden haben. Sie
haben ihr Gesicht gezeigt und einen Standpunkt bezogen, indem sie z.B.
über die Medien an die Öffentlichkeit herangetreten sind oder aber auch,
indem sie dieses Buch geschrieben haben.
Für mich stellt dieses Buch eine sehr persönliche Form des Erinnerns
dar, indem es versucht, das Schicksal von über vierhundert Kamener
Bürgerinnen und Bürgern in Form von Familienbiografien Stück für Stück
wieder in Erinnerung zu rufen. Es geht dabei um Familien, die teilweise
bereits seit mehr als zweihundert Jahren in Kamen lebten, um Menschen,
die aus der Kamener Bevölkerung und dem gesellschaftlichen Leben gar
nicht wegzudenken waren. Und doch war es möglich. Im Frühjahr 1944 wurde
der 89-jährige Adolf Sternberg als letzter jüdischer Bürger Kamens nach
Auschwitz deportiert. Kein Nachkomme aller dieser Familien ist -
ausgenommen für einen Besuch - zurückgekommen. Inzwischen gibt es aber
wieder Menschen jüdischen Glaubens in dieser Stadt - wenn auch erst
wenige.
Ich wünsche mir, dass dieses Buch darum nicht ein Abschluss, sondern ein
Beginn ist, eine Aufforderung für alle seine Leserinnen und Leser, sich
zu erinnern - nicht der ermordeten Juden, sondern der Menschen wegen!
Ich wünsche mir weiter, dass es Anstoß sein wird, sich für andere
Menschen zu engagieren, egal welcher Herkunft sie sind oder welchen
Glauben sie haben, und nicht zu schweigen, wenn Menschen diskriminiert
werden.
Was die jugendlichen Autorinnen und Autoren dieses Buches getan haben,
gibt mir Mut, weil ich oft mit dem Gegenteil konfrontiert bin: mit
Neonazis, Skinheads und Menschenhassern, mit jungen Menschen, die
Diktatur statt Demokratie wollen, die nicht älter sind als die, die
diese Arbeit geleistet haben. Und es gibt mir Kraft, wenn ich weiß, dass
jene eine Minderheit darstellen und die Verfasser dieses Buches
vielleicht doch die Mehrheit repräsentieren.
Ich hoffe, dass die Erfahrung aus dem Zusammenarbeiten an diesem Thema
alle Beteiligten ihr Leben lang begleiten und sie dazu ermutigen wird
weiterzumachen. Es gibt übrigens keine Alternative dazu, denn die
Freiheit, zu sagen, was man denkt, zu tun, was man möchte,
selbstbestimmt und nicht fremdbestimmt zu leben, ist keine
Selbstverständlichkeit. Für Privilegien wie Freiheit und Menschenwürde
müssen wir alle immer wieder kämpfen, dafür dass jeder Einzelne
denselben Respekt verdient wie jeder von uns ihn für sich selbst
erwartet.
Für die Vergangenheit waren andere verantwortlich, die Verantwortung für das Heute aber tragen wir alle gemeinsam!