Anna war ein Findelkind. In Dresden, nach der apokalyptischen Bombennacht im Februar 1945, hat man sie gefunden, in einem Kinderwagen, im Gewölbe tief unter der Brühlschen Terrasse. Ihre Kinderjahre, die sie im zum Kinderheim „Maxim Gorki“ umbenannten Schloß Hirschfels in Dresden verbrachte, waren die Kinderjahre der DDR.
Aufbruchsjahre.
Vierzig Jahre später hat Anna mit ihrem Sohn Rainer bei Potsdam unter märkischen Kiefern ihr eigenes Heim gefunden. Ihre Arbeit im Filmarchiv findet Anerkennung, schließlich sogar in Form des Privilegs, zu Recherchen in den Westen zu fahren: Um diese Zeit fiel Anna die erste Reise nach Paris in den Schoß. - Anna, das Findelkind aus Breslau, ist heimisch geworden in der DDR, von der ihr Sohn Rainer einmal maulend bemerkt, sie sei der Zustand der Welt, und die Mauer sei das genaue Abbild. In einer neuen Liebesbeziehung empfindet Anna zum ersten mal so etwas wie Glück.
Der Einbruch geschieht leise, unmerklich. Zunächst sind es nur ein paar luxuriöse Geschenke, die ihr Freund Rolf, ein erfolgreicher Mediziner, von der Tochter einer dankbaren Patientin aus dem Westen erhält. Doch nach und nach werden die vertrauten, altmodischen Gegenstände in Rolfs Wohnung von immer neuen Markenartikeln von “drüben'' überlagert und verdrängt. Alles hatte
sich krumm gebogen. Die Gefühle taumelten. Ist es der ungewohnte, >exotische< Luxus, dem Rolf erliegt, oder hat er in der Spenderin all dieses Überflusses, mit der er sich inzwischen regelmäßig im östlichen Teil von Berlin trifft, wirklich die Frau seines Lebens gefunden? Anna beginnt sich wider alle Vernunft gegen das Ende ihres Glücks zu wehren . . .
„In Annas Namen“ ist ein Buch voller Episoden, Bilder, einander ablösender Erinnerungen und Überlegungen, faszinierend durch die virtuose Misch- und Schnitttechnik der Autorin, den souveränen Umgang mit der selbst geschaffenen Kunstwelt ihrer früheren Prosa und Entsprechungen im eigenen Lebenslauf. Mit diesem Buch hat sich Helga Schütz an die unmittelbare Gegenwart herangeschrieben, die Gegenwart einer vordergründigen Ost-West-Entspannung, die durchkreuzt wird von der Drohung der Raketenbeschlüsse.
Sie erzählt - „indem sie ständig einen Lupenblick auf Details hat und blitzschnell in die Totale überblendet“ (Ursula Krechel in der „Frankfurter Rundschau“) - die Geschichte einer zerbrechenden Beziehung, eine einfache, fast banale Geschichte. Die Art, wie sie es versteht, in ihr ein größeres gesellschaftliches Ganzes zu spiegeln, ist meisterhaft.
Durchschnittliches, alltägliches Leben widersetzt sich dem Erzählen. Es in seiner ganzen Komplexität zu vergegenwärtigen, gelingt nur selten. Helga Schütz gehört zu den ganz wenigen, deren Werk hier zählt.
Heinrich Vormweg, „Süddeutsche Zeitung“