Um ein Trauma auszulösen, braucht es nur Sekunden, um dagegen anzukämpfen, ein Leben. Matthew Fifer und Kieran Mulcare zeigen in ihrem wunderschönen Film Cicada in träumerischen und teils erschreckend realen Bildern, dass der Kampf gegen ein Trauma langwierig, aufwendig, laut und leise, und doch auch schön und schrecklich sein kann, aber am Ende auf jeden Fall eines ist: lohnend.
Beutezüge…
Ben (Matthew Fifer) hat sich vor einiger Zeit als bisexuell bei seiner Familie geoutet und vögelt sich gerade so kreuz und quer durch die Lande. Ob Mann, ob Frau, egal. Während eines recht langatmigen Dates mit einer Frau direkt einen Kerl nebenher klar machen? Kein Ding. Und so begleiten wir Ben auf seinem vermeintlich freien Beutezug durch die Straßen New Yorks. An einem Buchladen begegnet er dem sehr attraktiven Sam (Sheldon D. Brown), der sich eher zögerlich auf Bens Flirtereien einlässt. Der Weg ins Bett führt in diesem Fall über Seele, Worte und plötzlich Herz.
Schnell merkt man, dass beide ein Trauma mit sich tragen. Ben wurde als Kind missbraucht, was gerade durch die aktuelle und landesweite Berichterstattung zu einem Missbrauchsprozess immer wieder aufgewühlt wird. Geplagt von chronischer Übelkeit, Schluckbeschwerden und anderen körperlichen Symptomen findet er sich regelmäßig beim Arzt wieder. Lange vor Ben ahnt es der Zuschauer schon, Psychosomatik.
…und Trophäensorgen
Sam wurde auf offener Straße aus einem heranfahrenden Wagen angesprochen und dann niedergeschossen. War es weil er Schwarz und schwul ist? Traf es ihn deshalb? Er hat sich weder im Job noch bei seinem Vater geoutet und wagt noch nicht mal ein Händchenhalten in der Öffentlichkeit. Als Nachwirkung der Schussverletzung trägt er vorübergehend ein Stoma, einen Beutel an einem künstlichen Darmausgang am Bauch. Dass ausgerechnet dieser Beutel beim „Sich näher kommen“ undicht ist und die Stimmung killt, führt nicht zum Abwenden sondern bringt beide eigentlich näher zusammen.
Wäre da nicht der nagende Zweifel in Sam, ob er als schwuler Schwarzer Mann nicht einfach nur eine Trophäe für Ben ist.
Und so fangen beide an einander und das Leben des anderen zu erkunden. Natürlich stoßen sie irgendwann an das Trauma des anderen und geben Ihr Bestes um dem erwählten Partner zu helfen, dieses zu überwinden und den Weg in ein „normales“ Leben zu gehen.
Kleinod queerer Kinematografie
Edition Salzgeber hat mit diesem Film ein Kleinod der queeren Kinematografie im Programm, das auf den ersten Blick als „einfache“ Unterhaltung angesehen werden kann. Erst auf den zweiten und dritten Blick offenbart dieser Film eine Zärtlichkeit und Rücksicht im Umgang mit seinen Charakteren, die ihresgleichen sucht. Sanft und langsam führt er an die körperlichen Konsequenzen heran, die Sams Verletzung zur Folge hat. Ein liebevolles Streicheln auf wulstigen Narben und einem Stoma in Großaufnahme? Aber ja! Was klingt, als müsste man sich daran erst langwierig gewöhnen ist hier selbstverständlicher Bestandteil und gehört eben einfach dazu.
Auch die Auseinandersetzungen der beiden, als sich der jeweils andere immer weiter dem Zentrum des Traumas nähert, könnten nicht weniger klischeehaft dargestellt sein, auch wenn sie genau das eine oder andere davon erfüllen. Das aber eben nicht mit dem Zaunpfahl. So ist es schlicht die logische Konsequenz, dass der Zuschauer die Antwort auf die Frage bereits kennt und natürlich mit „Nein“ beantwortet, ob Sam nur die schwule schwarze sexy Trophäe für Ben sei.
Heilung braucht Zeit
Bewegende, traumhafte Bilder, die jedwede Emotion klar und deutlich transportieren, wechseln sich ab mit den jeweils häuslichen Szenen in den Elternhäusern. Ist Ben bei Sams Vater nur der „Kumpel“, wird Sam doch bei Bens Mutter als der Geliebte und Partner angenommen und akzeptiert.
Immer wieder sitzen Ben und seine Mutter draußen und genießen das abendliche Konzert der dem Film ihren Namen gebenden Zikaden. Und so lernen wir noch nebenher, dass diese teilweise nur alle 17 Jahre in dieser Fülle schlüpfen um das Überleben der Spezies zu sichern.
Was sicherlich sehr zum Gelingen dieses absoluten Feel-Good-Movies (ja überraschend, nicht wahr) beiträgt, ist dass beide Darsteller ihre eigene Geschichte mit in den Film einfließen lassen. Matthew Fifer hat eine Mißbrauchsvergangenheit, die jedoch nicht mit der engeren Familie zusammenhängt, wie er selbst auch betont. Ein Mensch, den die Familie kannte war der Täter, der wohl auch zwischenzeitlich zur Verantwortung gezogen wurde.
Das Zeug zum Klassiker
Der offen schwul lebende Theater- und Filmschauspieler Sheldon D. Brown hatte schon für Cicada zugesagt, da wurde er auf offener Straße aus einem Auto angeschossen und musste eine Zeit lang mit künstlichem Darmausgang und eben diesem Stoma leben. Fifer fragte seinen guten Freund Sheldon daraufhin, ob er diese Geschichte auch für Sam adaptieren könne. Für den Charakter des Sam ein zusätzlicher Stein im Rucksack, der jedoch die Zerrissenheit des Sam so viel plastischer und berührender werden lässt.
Dieser Film hat das Zeug dazu, ebenso ein Klassiker der queeren Kinematografie zu werden, wie dereinst Abschiedsblicke im Jahr 1986. Es werden gesellschaftlich durchaus heiße Eisen angepackt, keine Standard oder Generallösungen angeboten und das Ende zeigt, ALLES ist möglich.
ABSOLUT unbedingte Guckempfehlung…. Am besten JETZT!
Worth the Pain
Der hübsche Kerl im Park, der mit aufreizendem Lächeln auf dem Skateboard vorbeirollt. Der Typ mit der Ballonmütze, der rauchend auf der abendlichen Straße steht. Die schöne, braunhaarige Frau, die leicht nervös an der Bar sitzt. All diese Menschen könnten doch jeweils die eine große Liebe in Bens Leben sein, oder? Die ersten Minuten des Films „Cicada“ sind eine einzige, unruhige Suchbewegung. Undankbare Callcenter- und Handwerker-Jobs mit geschwätzigen Kolleginnen und übergriffigen Kunden. Misslungene Dates mit Leuten, die irre Geschichten über Pudding und Hunde, über Sternzeichen, Persönlichkeitsstörungen und Bärte erzählen.
Der Film wirft uns in ein flirrendes Arrangement aus Arbeit, Smalltalk, Alkohol, Clubbing und Sex. Mittendrin, zugleich seltsam neben sich stehend: Ben, der mal ängstlich, mal indifferent und nie besonders glücklich wirkt. Übelkeit, Schluckbeschwerden, ständige Arztbesuche – auch das sind Teile von Bens Alltag. Erst allmählich erfahren wir, was es damit auf sich hat.
Ben, verkörpert von Co-Regisseur und Drehbuchautor Matthew Fifer, ist der Protagonist von „Cicada“. Aber zunächst eher in der Art, wie der Weltenbummler Walter die Hauptfigur in der britischen Kinderbuchreihe „Wo ist Walter?“ ist: Er ist die Person, um die es geht, doch er droht in den Wimmelbildern unterzugehen. Die Figuren um Ben herum haben alle ihre ganz eigenen Geschichten, haben sich gerade den Fuß gebrochen, wollen Schauspielkarriere machen, loten ihre künstlerischen Fähigkeiten aus oder plagen sich mit den Erinnerungen an ihre richtig blöde Ex-Beziehung herum. Mütter, (Stief-)Väter, Geschwister, die Clique, die WG, das Büro, eine Armee der ziellos Liebenden und obendrein noch Millionen Fremde.
In diesem vielstimmigen Gewimmel in einem betont unglamourösen New York muss Ben sich behaupten. „Wirst du heute reden?“, fragt ihn seine Mitbewohnerin zu Beginn, als er hustend neben seinem Bett auf dem staubigen Boden liegt. Wir ahnen, dass es Tage gibt, an denen sich Ben dem Gewimmel gänzlich zu entziehen versucht, an denen er nicht der Protagonist in seiner eigenen Lebensgeschichte sein möchte.
Und dann steht plötzlich der verdammt gut aussehende Sam vor ihm, am Außenstand einer Buchhandlung für gebrauchte Bücher, in „Die kleine Raupe Nimmersatt“ lesend. Sam könnte ein weiteres „Was wäre, wenn…?“-Kapitel in Bens dickem Buch der unseligen Begegnungen sein. Doch er wird mehr als das. Viel mehr sogar. In einem anderen Film wäre Sam womöglich das Allheilmittel für Bens Wunden. Der Mensch, der ihn rettet, der ihn komplettiert und auf die Frage „Wo ist Ben?“ die herzige Antwort „Bei Sam!“ liefert. Aber so läuft es eben nicht. Weder im Leben noch in Filmen, die dem Leben gerecht werden wollen. Denn Sam hat selbst genug Wunden – darunter auch eine ganz frische, sichtbare, von einer kürzlichen OP, nachdem er Opfer eines mutmaßlich rassistisch und homophob motivierten Hassverbrechens auf offener Straße geworden war.
Wir erleben mit, wie Ben und Sam ihre privaten Geschichten austauschen. Es beginnt oberflächlich und geht dann immer tiefer. Die Handkamera bewegt sich sachte hin und her, wenn die beiden in Bens Bett liegen und reden – eine sehr intime Bettszene, ohne Sex. Wenn der Sex später dazukommt, muss die Intimität gar nicht mehr durch klischeehafte Stilmittel, von softerotischer Musik bis hin zu stilisierter Beleuchtung, herbeigeführt werden; sie hat sich ganz von selbst aufgebaut.
Auf der Dachterrasse und zwischen Bücherregalen, in den Vergnügungsparks auf Coney Island, im Bett und im Waschsalon – überall harmonieren Ben und Sam wunderbar miteinander. Wir schauen zu, wie sie sich ineinander verlieben und verlieben uns dabei selbst ein bisschen mit. Sobald es zu kitschig zu werden droht, wird das Pathos rasch wieder auf Lebensgröße gebracht: „Die Welt denkt nicht über uns nach“, meint Ben beschwichtigend, als Sam zur dramatischen Erkenntnis kommt, es sei egal, was die Welt über sie denke.
In Momenten wie diesen ist „Cicada“ unfassbar schön, romantisch, bezaubernd. Aber der Film belügt uns nicht. Er lässt uns nicht glauben, dass sich Abgründe mit einer ordentlichen Portion Zuckerguss schließen lassen. Warum weicht Ben bei aller Offenheit und Vertrautheit bei Sams Frage nach seinem ersten Mal aus? Beinahe 60 Filmminuten vergehen, ehe Bens Trauma erstmals klar ausgesprochen wird, in einer Therapiesitzung mit einer bemüht freigeistigen Therapeutin. Ben wurde als Kind missbraucht. Intimität war für ihn lange nur möglich, wenn er betrunken war.
Matthew Fifer schildert hier seine persönlichen Erlebnisse. Ebenso ist die Gewalt, die Sam erfahren hat, auch dem Darsteller Sheldon D. Brown zugestoßen. Der erlittene und nach wie vor tief sitzende Schmerz dient nicht dazu, künstliche Konflikte bis zum Happy End zu schaffen. Er ist da; er zwingt zur Auseinandersetzung. Es gibt kein absehbares Ende, kein gesichertes Glück. Aber Ben und Sam, Matthew und Sheldon sind dennoch immer mehr als nur ihr Trauma, mehr als ihre Wunden, mehr als das, was ihnen angetan wurde.
In „Cicada“ sind Leichtigkeit und Schmerz untrennbar miteinander verknüpft. Es sei den Schmerz wert, meint Ben beim Kennlern-Flirt mit Sam scherzhaft über „Die kleine Raupe Nimmersatt“, das laut Ben „beste, aber am wenigsten zugängliche Werk von Friedrich Nietzsche“. Und so ist es auch mit diesem Film: Er tut manchmal heftig weh, ist jedoch auch höchst beglückend.
Produktinformation
- Seitenverhältnis : 16:9 - 1.77:1
- Alterseinstufung : Freigegeben ab 16 Jahren
- Verpackungsabmessungen : 19.2 x 13.8 x 1.3 cm; 90 Gramm
- Regisseur : Mulcare, Kieran, Fifer, Matthew
- Laufzeit : 1 Stunde und 34 Minuten
- Erscheinungstermin : 8. April 2022
- Darsteller : Fifer, Matthew, Brown, Sheldon D.
- Untertitel: : Deutsch
- Sprache, : Englisch (Dolby Digital 5.1)
- Studio : Salzgeber & Co. Medien GmbH
- ASIN : B09QPSZP1L
- Herkunftsland : Deutschland
- Anzahl Disks : 1