DVD 
Cicada

Cicada ist ein Filmdrama von Matthew Fifer und Kieran Mulcare, das im August 2020 beim Outfest Los Angeles seine Premiere feierte und Ende Oktober 2021 in die US-Kinos kam. Fifer spielt in dem semi-autobiografischen Film zudem Ben, der den ebenfalls traumatisierten Schwarzen Sam kennenlernt. Dieser wird von Sheldon D. Brown gespielt, der ebenso von ihm Erlebtes in das Drehbuch einbrachte. Der Film basiert somit auf einer Kombination ihrer beiden Erfahrungen.

Handlung

Im Sommer 2013 in New York City. Ben hat seiner Mutter endlich gesagt, dass er bisexuell ist. Er verbringt seine Tage und Nächte damit, mit jedem und jeder Sex zu haben, der oder dem er auf der Upper East Side über den Weg läuft und ihm gefällt. Als er eines Tages den großen und gutaussehenden Schwarzen Sam trifft, der trotz des leidenschaftlichen Sex, den sie miteinander haben, sein Schwulsein in der Öffentlichkeit nicht zeigen und auch nicht Händchen halten will, beginnen die beiden etwas Festes.

Ben wurde als Kind sexuell missbraucht. Er leidet unter chronischer Übelkeit, muss sich öfter erbrechen und hat Schluckbeschwerden, besonders, wenn er in den Nachrichten etwas über den Prozess gegen den ehemaligen Football-Trainer Jerry Sandusky hört. Daher stattet Ben auch regelmäßig seinem Arzt Dr. Dragone Besuche ab oder wendet sich an seine Therapeutin Sophie. Er gibt schließlich auch Sam gegenüber zu, dass er als Kind sexuell missbraucht wurde, auch wenn es ihm schwerfällt, von dem Erlebten zu erzählen.

Zwar begegnet Sam dem Leben mit Leichtigkeit und seinem ganz besonderen Humor, doch auch er muss mit einem Trauma leben, seit er von einem Fremden auf offener Straße angeschossen wurde. Zudem ist es für ihn nicht leicht, seine Hautfarbe und seine Sexualität in Einklang zu bringen, die er vor Familie und Kollegen verbirgt. Er will sich nicht outen, da er als schwarzer, schwuler Mann mit einer sehr religiösen Familie bereits genug Probleme hat. Bens Mutter Debbie und seine Schwester Amber haben sein Coming-out akzeptiert, daher ermutigt Ben Sam, es ihm gegenüber seinem Vater gleichzutun, doch er vermutet, der werde nicht so reagieren wie Bens Familie.

Produktion

Regie führten Matthew Fifer und Kieran Mulcare. Es handelt sich für beide um ihr Spielfilmdebüt. Fifer spielt im Film zudem Ben und schrieb auch das Drehbuch. Der überwiegend als Theaterschauspieler arbeitende Sheldon D. Brown spielt seinen neuen Freund Sam, Scott Adsit seinen Arzt Dr. Dragone und Cobie Smulders seine Therapeutin Sophia. Sandra Bauleo ist in der Rolle von Bens Mutter Debbie zu sehen, Jazmin Grace Grimaldi spielt seine Schwester Amber. Michael Potts übernahm die Rolle von Sams Vater Francis.

Fifer litt ein Jahr lang unter Depressionen, lebte zu dieser Zeit bei seinen Eltern und durchlief eine Therapie, als er mit dem Schreiben des Drehbuchs begann. Im Februar 2018 holte er Sheldon ins Boot. Nachdem Fifer zwei Monate später erfuhr, dass Brown angeschossen wurde, sich im Krankenhaus aufhält, Krücken zum Laufen benötigt und nicht sicher war, ob er für die Dreharbeiten wieder fit ist, hatte Fifer ihn gefragt, ob er die Geschichte in den Film einbauen dürfe. Brown wurde am 8. April 2018 auf der Straße aus einem Auto heraus nach dem Weg zu einer Party gefragt, als die Insassen plötzlich auf ihn schossen. So überarbeitete Fifer die ursprünglich auf Ereignissen seines Lebens basierende Geschichte und nahm das Trauma Browns mit auf. Im Juni 2018, nach Browns Entlassung aus dem Krankenhaus, wurden die Dreharbeiten begonnen. Bei den im Film zu sehenden Narben handelt es sich um Browns echte, die er von den Schussverletzungen davontrug. Brown sagte über die von ihm gespielte Figur, die sich mit ihrer Sexualität sehr unwohl fühlt: "Ich denke, schwarze Männer, insbesondere schwarze queere Männer, leben immer in einem Zustand der Unsicherheit." Es sei für ihn wichtig gewesen zu zeigen, wie Sam lernen muss, nicht in Angst zu leben.

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Einige Arten der titelgebenden Zikaden tauchen alle 13–17 Jahre aus ihren unterirdischen Nestern auf

Während Sams Trauma im Film infolge der erlebten Homophobie und Rassismus noch verstärkt wird, besteht Bens Trauma darin, dass er als Missbrauchsopfer noch als Erwachsener mit dem Erlebten zu kämpfen hat. Fifer betonte, es habe sich um kein Mitglied seiner Familie gehandelt, von dem er selbst missbraucht wurde, aber um jemanden, den seine Familie kannte.

Im Hintergrund des Films behandelt Fifer den Missbrauchsskandal rund um den ehemaligen Football-Trainer und langjährigen Defensive Coordinator Jerry Sandusky. Zum Filmtitel erklärte Fifer, er erinnere sich, dass er eines Tages gelesen hatte, dass es Zikaden gibt, die alle 13–17 Jahre auftauchen. Er selbst hatte sich im Alter von 17 Jahren gegenüber seiner Mutter geoutet. Das Interessante an Zikaden sei, dass nur die Männchen nachts singen, und als der Sandusky-Prozess im Juni 2013 endete, habe er nachts deren Geräusche gehört, was ihm schien, als würden alle von diesem missbrauchten Jungen schreien und endlich frei sein.

Eine erste Vorstellung erfolgte am 20. August 2020 beim unter freiem Himmel stattfindenden Outfest Los Angeles. Im September 2020 wurde er beim australischen Queer Screen Film Fest gezeigt. Ab Ende September 2020 erfolgten Vorstellungen beim Calgary International Film Festival und im Oktober 2020 beim London Film Festival. Ende April, Anfang Mai 2021 wurde er beim Sarasota Film Festival gezeigt. Im September 2021 wurde er beim Prague International Film Festival vorgestellt. Der Start in ausgewählten US-Kinos erfolgte am 29. Oktober 2021.

Rezeption

Kritiken

Der Film wurde von 95 Prozent aller bei Rotten Tomatoes erfassten Kritiker positiv bewertet mit durchschnittlich 7,8 von 10 möglichen Punkten.

Shaun Munro von flickeringmyth.com schreibt, obwohl aus dem Film leicht ein schmieriges Melodram hätte werden können, habe Matthew Fifer einen Film voller Naturalismus geschaffen, der größtenteils durch die Gespräche des Paares über das Leben bestimmt wird, zwei Männer, die sich gerade erst kennenlernen und hierfür viel tun müssen. Beide hätten ihren eigenen inneren Konflikt auszukämpfen. Bei Ben bestehe dieser darin, nach dem Missbrauch als Kind durch ein männliches Familienmitglied als nun schwuler Mann sein bloßes Schwulsein nicht zu einem „Triumph“ für den Täter werden zu lassen. Dennoch hat Ben das dringende Bedürfnis über seine traumatische Vergangenheit zu reden. Für Sam sind es plötzliche Geräusche, die ihn zusammenzucken lassen. So hätten beide Männer auf sehr unterschiedliche Weise mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu kämpfen. Munro beschreibt Cicada trotz dieser düsteren Thematik als eine ungewöhnlich offene, leichte Romanze, die voller Empathie ist und von ihren beiden überzeugenden Hauptdarstellern zum Leben erweckt wird.

Guy Lodge von Variety schreibt, Fifers Drehbuch sei am intensivsten und interessantesten, wenn er eine Verbindung zwischen den Schmerzen herstellt, die die beider Protagonisten empfinden, und damit zeige, dass die Tatsache unter einer posttraumatischen Belastungsstörung zu leiden, nicht automatisch mehr Empathie für den jeweils anderen zur Folge hat. Insbesondere in den Sexszenen des Films stecke weitaus mehr menschliche Wahrheit, als in den Szenen, die Ben mit seiner Therapeutin zeigt, die Lodge wie aus einem völlig anderen Film entnommen scheinen, was vielleicht aber auch beabsichtigt sein mag als eine Art Kommentar zu den gegensätzlichen Ansätzen der professionellen Therapie und der Selbstanalyse. Der Film sei mit diesen beiden während des Sex in der schmuddeligen Wohngemeinschaft lustvoll stöhnenden Männer, als nur ein Teil einer völlig natürlichen Klanglandschaft, ein modernes urbanes Äquivalent zum Abendgesang der Zikaden.

Auszeichnungen

Fusion Filmfestival Oslo 2020

Independent Spirit Awards 2022

NewFest: New York's LGBT Film Festival 2020

Sarasota Film Festival 2021


DIRECTOR'S STATEMENT
MATTHEW FIFER ÜBER SEINEN FILM

„Cicada“ war das Geheimnis, das ich niemals erzählen wollte. Es war aus einer Notwendigkeit heraus geboren. Ich war es leid, dieselbe Missbrauchsgeschichte wieder und wieder erzählt zu sehen – Traumatisierung um der Dramaturgie willen, Schmerz ohne Leichtigkeit, Filmemacher, die Erfahrungen vermittelten, die sie nicht selbst gemacht hatten – kollektive Traumatisierungen. Tatsächlich ist eins von drei Mädchen und einer von fünf Jungen sexuell missbraucht worden, bevor sie das Alter von achtzehn Jahren erreichten. Missbrauchte gibt es in allen Formen und Größen, Missbraucher sind immer noch menschliche Wesen und keine eindimensionalen Monster. Keins dieser Narrative kommt einer Auseinandersetzung mit dieser Wahrheit nahe.

Ich musste eine Geschichte erzählen, die meiner eigenen näherkam. Ich musste diesen Film machen, um gesund zu werden.

Drei Monate vor Produktionsbeginn wurde mein Freund und Co-Hauptdarsteller Sheldon Brown in Chicago niedergeschossen. Wir wussten nicht, ob er wieder gesundwird und ob wir weitermachen sollten. Er war immer ein integraler Bestandteil dieser Geschichte und war seit der allerersten Seite in meinem Herzen. Das Projekt zerfiel über Nacht.

Seitdem hatte ich immer wieder dasselbe Gefühl. Meine Erfahrungen fühlten sich unwichtig an verglichen mit seinen. Bei seinen Wunden ging es um Leben und Tod, geliebte Menschen mussten mit der sehr realen Möglichkeit fertigwerden, dass sie ihren besten Freund verlieren würden. Er hatte Narben, die er berühren konnte. Mein Schmerz fühlte sich fern und taub an. Er war jetzt nur noch ein böser Traum.

Es war Frühling. Sheldon kam aus dem Krankenhaus, die Zikaden beschallten die New Yorker Nächte. Ich wusste nichts von Sheldons Schmerz – nicht einmal, ob Sheldon selbst sich seines Schmerzes bewusst war, aber im Herzen versöhnte diese Geschichte die Wahrheit. Und ich wusste, falls er gesund genug war, konnten wir sie zusammen erzählen.

„Cicada“ ist ein Film, der mit den zwei Schauspielern, die auf der Leinwand ihre eigenen Erfahrungen wiederbeleben, die Balance zwischen Spiel- und Dokumentarfilm hält. Er ist ein Film über Liebe und Verlust, großen Schmerz und auch enorme Freude. Und er ist gewachsen und hat sich so viele Male verwandelt wie die uralten Wesen, deren Namen er trägt. Wir hoffen, dass dieser Film andere dazu inspiriert, Heilung zu finden; er erzählt eine Geschichte, die ich gerne gehabt hätte, als ich aufwuchs.

BIOGRAFIEN

MATTHEW FIFER (Buch, Regie, Co-Schnitt & Hauptrolle) ist ein Filmemacher aus Brooklyn. Sein Handwerk erlernte er bei der Regisseurin Laurie Collyer („Sherrybaby“), neben Studien in Theorie und Philosophie. Er arbeitete an Kurzfilmen, Werbespots und Großproduktionen wie „The Avengers“ (2012) und „Saiten des Lebens“ (2012) mit. 2016 und 2017 stand er auf den Top-10-Listen für die Besten Webserien des Jahres. „Cicada“ ist sein Langfilmdebüt als Regisseur.

KIERAN MULCARE (Co-Regie) ist ein Absolvent der UNC School of the Arts. Bekanntheit als Schauspieler erlangte er durch die Rolle des Ruben in der Marvel-Serie „Jessica Jones“ und die Rolle des White Rabbit in der DC-Serie „Gotham“. Weitere Auftritte hatte er u.a. in den Serien „The Following“, „Broad City“, „Law and Order: SVU“, „The Blacklist“ sowie in diversen Kurzfilmen. „Cicada“ ist sein Regiedebüt.

SHELDON D. BROWN (Sam) machte seinen Schauspiel-Abschluss am Emerson College in Boston. Er wurde für die Hauptrollen in den Stücken „This Bitter Earth“ (About Face Theater) und „The Shipment“ (Red Tape Theatre) gecastet. Zu seinen bisherigen Auftritten zählen „Feral“ (MPAACT Theatre Company), „American Revolution“ (Theater Unspeakable) und die Bühnenlesung von „The Gospel of Lovingkindness“ (Victory Gardens). In Boston stand er u.a. für Regisseur Peter Brook in „The Grand Inquisitor“ auf der Bühne sowie für das Gemeinschaftsprojekt „The Shakespearean Jazz Show“.


Der Weg ins Bett führt übers Herz

Um ein Trauma auszulösen, braucht es nur Sekunden, um dagegen anzukämpfen, ein Leben. Matthew Fifer und Kieran Mulcare zeigen in ihrem wunderschönen Film Cicada in träumerischen und teils erschreckend realen Bildern, dass der Kampf gegen ein Trauma langwierig, aufwendig, laut und leise, und doch auch schön und schrecklich sein kann, aber am Ende auf jeden Fall eines ist: lohnend.

Beutezüge…

Ben (Matthew Fifer) hat sich vor einiger Zeit als bisexuell bei seiner Familie geoutet und vögelt sich gerade so kreuz und quer durch die Lande. Ob Mann, ob Frau, egal. Während eines recht langatmigen Dates mit einer Frau direkt einen Kerl nebenher klar machen? Kein Ding. Und so begleiten wir Ben auf seinem vermeintlich freien Beutezug durch die Straßen New Yorks. An einem Buchladen begegnet er dem sehr attraktiven Sam (Sheldon D. Brown), der sich eher zögerlich auf Bens Flirtereien einlässt. Der Weg ins Bett führt in diesem Fall über Seele, Worte und plötzlich Herz.

© Salzgeber

Schnell merkt man, dass beide ein Trauma mit sich tragen. Ben wurde als Kind missbraucht, was gerade durch die aktuelle und landesweite Berichterstattung zu einem Missbrauchsprozess immer wieder aufgewühlt wird. Geplagt von chronischer Übelkeit, Schluckbeschwerden und anderen körperlichen Symptomen findet er sich regelmäßig beim Arzt wieder. Lange vor Ben ahnt es der Zuschauer schon, Psychosomatik.

…und Trophäensorgen

Sam wurde auf offener Straße aus einem heranfahrenden Wagen angesprochen und dann niedergeschossen. War es weil er Schwarz und schwul ist? Traf es ihn deshalb? Er hat sich weder im Job noch bei seinem Vater geoutet und wagt noch nicht mal ein Händchenhalten in der Öffentlichkeit. Als Nachwirkung der Schussverletzung trägt er vorübergehend ein Stoma, einen Beutel an einem künstlichen Darmausgang am Bauch. Dass ausgerechnet dieser Beutel beim „Sich näher kommen“ undicht ist und die Stimmung killt, führt nicht zum Abwenden sondern bringt beide eigentlich näher zusammen.

© Salzgeber

Wäre da nicht der nagende Zweifel in Sam, ob er als schwuler Schwarzer Mann nicht einfach nur eine Trophäe für Ben ist.

Und so fangen beide an einander und das Leben des anderen zu erkunden. Natürlich stoßen sie irgendwann an das Trauma des anderen und geben Ihr Bestes um dem erwählten Partner zu helfen, dieses zu überwinden und den Weg in ein „normales“ Leben zu gehen.

Kleinod queerer Kinematografie

Edition Salzgeber hat mit diesem Film ein Kleinod der queeren Kinematografie im Programm, das auf den ersten Blick als „einfache“ Unterhaltung angesehen werden kann. Erst auf den zweiten und dritten Blick offenbart dieser Film eine Zärtlichkeit und Rücksicht im Umgang mit seinen Charakteren, die ihresgleichen sucht. Sanft und langsam führt er an die körperlichen Konsequenzen heran, die Sams Verletzung zur Folge hat. Ein liebevolles Streicheln auf wulstigen Narben und einem Stoma in Großaufnahme? Aber ja! Was klingt, als müsste man sich daran erst langwierig gewöhnen ist hier selbstverständlicher Bestandteil und gehört eben einfach dazu.

© Salzgeber

Auch die Auseinandersetzungen der beiden, als sich der jeweils andere immer weiter dem Zentrum des Traumas nähert, könnten nicht weniger klischeehaft dargestellt sein, auch wenn sie genau das eine oder andere davon erfüllen. Das aber eben nicht mit dem Zaunpfahl. So ist es schlicht die logische Konsequenz, dass der Zuschauer die Antwort auf die Frage bereits kennt und natürlich mit „Nein“ beantwortet, ob Sam nur die schwule schwarze sexy Trophäe für Ben sei.

Heilung braucht Zeit

Bewegende, traumhafte Bilder, die jedwede Emotion klar und deutlich transportieren, wechseln sich ab mit den jeweils häuslichen Szenen in den Elternhäusern. Ist Ben bei Sams Vater nur der „Kumpel“, wird Sam doch bei Bens Mutter als der Geliebte und Partner angenommen und akzeptiert.

Immer wieder sitzen Ben und seine Mutter draußen und genießen das abendliche Konzert der dem Film ihren Namen gebenden Zikaden. Und so lernen wir noch nebenher, dass diese teilweise nur alle 17 Jahre in dieser Fülle schlüpfen um das Überleben der Spezies zu sichern.

© Salzgeber

Was sicherlich sehr zum Gelingen dieses absoluten Feel-Good-Movies (ja überraschend, nicht wahr) beiträgt, ist dass beide Darsteller ihre eigene Geschichte mit in den Film einfließen lassen. Matthew Fifer hat eine Mißbrauchsvergangenheit, die jedoch nicht mit der engeren Familie zusammenhängt, wie er selbst auch betont. Ein Mensch, den die Familie kannte war der Täter, der wohl auch zwischenzeitlich zur Verantwortung gezogen wurde.

Das Zeug zum Klassiker

Der offen schwul lebende Theater- und Filmschauspieler Sheldon D. Brown hatte schon für Cicada zugesagt, da wurde er auf offener Straße aus einem Auto angeschossen und musste eine Zeit lang mit künstlichem Darmausgang und eben diesem Stoma leben. Fifer fragte seinen guten Freund Sheldon daraufhin, ob er diese Geschichte auch für Sam adaptieren könne. Für den Charakter des Sam ein zusätzlicher Stein im Rucksack, der jedoch die Zerrissenheit des Sam so viel plastischer und berührender werden lässt.

Dieser Film hat das Zeug dazu, ebenso ein Klassiker der queeren Kinematografie zu werden, wie dereinst Abschiedsblicke im Jahr 1986. Es werden gesellschaftlich durchaus heiße Eisen angepackt, keine Standard oder Generallösungen angeboten und das Ende zeigt, ALLES ist möglich.

ABSOLUT unbedingte Guckempfehlung…. Am besten JETZT!


Worth the Pain


Der hübsche Kerl im Park, der mit aufreizendem Lächeln auf dem Skateboard vorbeirollt. Der Typ mit der Ballonmütze, der rauchend auf der abendlichen Straße steht. Die schöne, braunhaarige Frau, die leicht nervös an der Bar sitzt. All diese Menschen könnten doch jeweils die eine große Liebe in Bens Leben sein, oder? Die ersten Minuten des Films „Cicada“ sind eine einzige, unruhige Suchbewegung. Undankbare Callcenter- und Handwerker-Jobs mit geschwätzigen Kolleginnen und übergriffigen Kunden. Misslungene Dates mit Leuten, die irre Geschichten über Pudding und Hunde, über Sternzeichen, Persönlichkeitsstörungen und Bärte erzählen.

Der Film wirft uns in ein flirrendes Arrangement aus Arbeit, Smalltalk, Alkohol, Clubbing und Sex. Mittendrin, zugleich seltsam neben sich stehend: Ben, der mal ängstlich, mal indifferent und nie besonders glücklich wirkt. Übelkeit, Schluckbeschwerden, ständige Arztbesuche – auch das sind Teile von Bens Alltag. Erst allmählich erfahren wir, was es damit auf sich hat.

Ben, verkörpert von Co-Regisseur und Drehbuchautor Matthew Fifer, ist der Protagonist von „Cicada“. Aber zunächst eher in der Art, wie der Weltenbummler Walter die Hauptfigur in der britischen Kinderbuchreihe „Wo ist Walter?“ ist: Er ist die Person, um die es geht, doch er droht in den Wimmelbildern unterzugehen. Die Figuren um Ben herum haben alle ihre ganz eigenen Geschichten, haben sich gerade den Fuß gebrochen, wollen Schauspielkarriere machen, loten ihre künstlerischen Fähigkeiten aus oder plagen sich mit den Erinnerungen an ihre richtig blöde Ex-Beziehung herum. Mütter, (Stief-)Väter, Geschwister, die Clique, die WG, das Büro, eine Armee der ziellos Liebenden und obendrein noch Millionen Fremde.

In diesem vielstimmigen Gewimmel in einem betont unglamourösen New York muss Ben sich behaupten. „Wirst du heute reden?“, fragt ihn seine Mitbewohnerin zu Beginn, als er hustend neben seinem Bett auf dem staubigen Boden liegt. Wir ahnen, dass es Tage gibt, an denen sich Ben dem Gewimmel gänzlich zu entziehen versucht, an denen er nicht der Protagonist in seiner eigenen Lebensgeschichte sein möchte.

Und dann steht plötzlich der verdammt gut aussehende Sam vor ihm, am Außenstand einer Buchhandlung für gebrauchte Bücher, in „Die kleine Raupe Nimmersatt“ lesend. Sam könnte ein weiteres „Was wäre, wenn…?“-Kapitel in Bens dickem Buch der unseligen Begegnungen sein. Doch er wird mehr als das. Viel mehr sogar. In einem anderen Film wäre Sam womöglich das Allheilmittel für Bens Wunden. Der Mensch, der ihn rettet, der ihn komplettiert und auf die Frage „Wo ist Ben?“ die herzige Antwort „Bei Sam!“ liefert. Aber so läuft es eben nicht. Weder im Leben noch in Filmen, die dem Leben gerecht werden wollen. Denn Sam hat selbst genug Wunden – darunter auch eine ganz frische, sichtbare, von einer kürzlichen OP, nachdem er Opfer eines mutmaßlich rassistisch und homophob motivierten Hassverbrechens auf offener Straße geworden war.

Foto: Salzgeber

Wir erleben mit, wie Ben und Sam ihre privaten Geschichten austauschen. Es beginnt oberflächlich und geht dann immer tiefer. Die Handkamera bewegt sich sachte hin und her, wenn die beiden in Bens Bett liegen und reden – eine sehr intime Bettszene, ohne Sex. Wenn der Sex später dazukommt, muss die Intimität gar nicht mehr durch klischeehafte Stilmittel, von softerotischer Musik bis hin zu stilisierter Beleuchtung, herbeigeführt werden; sie hat sich ganz von selbst aufgebaut.

Auf der Dachterrasse und zwischen Bücherregalen, in den Vergnügungsparks auf Coney Island, im Bett und im Waschsalon – überall harmonieren Ben und Sam wunderbar miteinander. Wir schauen zu, wie sie sich ineinander verlieben und verlieben uns dabei selbst ein bisschen mit. Sobald es zu kitschig zu werden droht, wird das Pathos rasch wieder auf Lebensgröße gebracht: „Die Welt denkt nicht über uns nach“, meint Ben beschwichtigend, als Sam zur dramatischen Erkenntnis kommt, es sei egal, was die Welt über sie denke.

In Momenten wie diesen ist „Cicada“ unfassbar schön, romantisch, bezaubernd. Aber der Film belügt uns nicht. Er lässt uns nicht glauben, dass sich Abgründe mit einer ordentlichen Portion Zuckerguss schließen lassen. Warum weicht Ben bei aller Offenheit und Vertrautheit bei Sams Frage nach seinem ersten Mal aus? Beinahe 60 Filmminuten vergehen, ehe Bens Trauma erstmals klar ausgesprochen wird, in einer Therapiesitzung mit einer bemüht freigeistigen Therapeutin. Ben wurde als Kind missbraucht. Intimität war für ihn lange nur möglich, wenn er betrunken war.

Foto: Salzgeber

Matthew Fifer schildert hier seine persönlichen Erlebnisse. Ebenso ist die Gewalt, die Sam erfahren hat, auch dem Darsteller Sheldon D. Brown zugestoßen. Der erlittene und nach wie vor tief sitzende Schmerz dient nicht dazu, künstliche Konflikte bis zum Happy End zu schaffen. Er ist da; er zwingt zur Auseinandersetzung. Es gibt kein absehbares Ende, kein gesichertes Glück. Aber Ben und Sam, Matthew und Sheldon sind dennoch immer mehr als nur ihr Trauma, mehr als ihre Wunden, mehr als das, was ihnen angetan wurde.

In „Cicada“ sind Leichtigkeit und Schmerz untrennbar miteinander verknüpft. Es sei den Schmerz wert, meint Ben beim Kennlern-Flirt mit Sam scherzhaft über „Die kleine Raupe Nimmersatt“, das laut Ben „beste, aber am wenigsten zugängliche Werk von Friedrich Nietzsche“. Und so ist es auch mit diesem Film: Er tut manchmal heftig weh, ist jedoch auch höchst beglückend.



Produktinformation

  • Seitenverhältnis ‏ : ‎ 16:9 - 1.77:1
  • Alterseinstufung ‏ : ‎ Freigegeben ab 16 Jahren
  • Verpackungsabmessungen ‏ : ‎ 19.2 x 13.8 x 1.3 cm; 90 Gramm
  • Regisseur ‏ : ‎ Mulcare, Kieran, Fifer, Matthew
  • Laufzeit ‏ : ‎ 1 Stunde und 34 Minuten
  • Erscheinungstermin ‏ : ‎ 8. April 2022
  • Darsteller ‏ : ‎ Fifer, Matthew, Brown, Sheldon D.
  • Untertitel: ‏ : ‎ Deutsch
  • Sprache, ‏ : ‎ Englisch (Dolby Digital 5.1)
  • Studio ‏ : ‎ Salzgeber & Co. Medien GmbH
  • ASIN ‏ : ‎ B09QPSZP1L
  • Herkunftsland ‏ : ‎ Deutschland
  • Anzahl Disks ‏ : ‎ 1