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Vom Trödel bis zur Antiquität...
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Viel diskutiertes Buch
Original- Ausgabe 2018
n
Autor: Thilo Sarrazin * Titel:Feindliche Übernahme Untertitel: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht Verlag: Finanzbuchverlag, München 2018
495 Seiten, Hartpappe, Schutzumschlag
Inhalt siehe Fotos
* Biographie siehe unter den Fotos
Maße: 22x 14,5 cm
Zustand: sehr gut
Thilo Sarrazin
(* 12.
Februar 1945 in Gera) ist ein deutscher Volkswirt, Autor und Politiker (parteilos,
zuvor SPD). Von 1975 bis 2010 war er im öffentlichen Dienst tätig
und von 2000 bis 2001 in leitender Position bei der Deutschen Bahn AG. Von
2002 bis April 2009 war Sarrazin für die SPD Finanzsenator im Berliner
Senat und anschließend bis Ende September 2010 Mitglied des Vorstands
der Deutschen Bundesbank.
Sarrazins
kontroverse Thesen zur Finanz-, Sozial- und Bevölkerungspolitik stießen bereits
verschiedene gesellschaftliche Diskussionen an. Nachdem Sarrazin mit
Ratschlägen an Hartz-IV-Empfänger überregional bekannt geworden war und
mit Deutschland schafft sich ab einen umstrittenen Bestseller geschrieben
hatte, schied er aus dem Bundesbankvorstand aus.
Sarrazin war
von 1973 bis 2020 Mitglied der SPD. Am 31. Juli 2020 hat die Bundesschiedskommission
der SPD Sarrazin im Zuge eines dritten Parteiordnungsverfahrens wirksam
aus der Partei ausgeschlossen.
Werdegang
Thilo
Sarrazin, ältestes von vier Kindern des Arztes und Schriftstellers Hans-Christian
Sarrazin (1914–2013) und der Künstlerin Mechthild Sarrazin, geb. von
Fischer (1920–2014), wurde in der Endphase des Zweiten Weltkriegs in Gera geboren,
wo seine Mutter – Tochter eines westpreußischen Gutsbesitzers – auf
der Flucht aus den deutschen Ostgebieten vorübergehend bei Verwandten
untergekommen war. Er wuchs in Recklinghausen auf und machte
1965 am dortigen altsprachlichen Gymnasium Petrinum das
Abitur. Nach dem Wehrdienst studierte er von 1967 bis 1971 Volkswirtschaftslehre an
der Universität Bonn, arbeitete dort anschließend als Assistent am
Institut für Industrie- und Verkehrspolitik und wurde 1973 bei Fritz Voigt an
der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zum Dr. rer. pol. promoviert. In
seiner Dissertation behandelte er wissenschaftstheoretische Probleme
der Wirtschaftsgeschichte aus dem Blickwinkel des Kritischen Rationalismus.
Von November 1973 bis Dezember 1974 war Sarrazin wissenschaftlicher
Angestellter der Friedrich-Ebert-Stiftung. In dieser Zeit trat er
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei.
Ab 1975 war
Sarrazin im öffentlichen Dienst des Bundes tätig, von 1975 bis 1978
als Referent im Bundesministerium der Finanzen (1977
Abordnung zum IWF nach Washington, D.C.), anschließend bis 1981
als Referatsleiter im Bundesministerium für Arbeit und
Sozialordnung, ab 1981 erneut im Bundesfinanzministerium. Im Zeitraum 1978–1982
war er als Redenschreiber für Hans Apel tätig. Von Oktober 1981 an
war er dort Büroleiter und enger Mitarbeiter von Bundesfinanzminister Hans
Matthöfer und dessen Nachfolger Manfred Lahnstein. Nach Ende
der sozialliberalen Koalition im Oktober 1982 blieb Sarrazin im
Bundesfinanzministerium, wo er zeitweise für den Bereich Schienenverkehr
zuständig war und nacheinander mehrere Referate leitete, darunter 1989 bis
1990 das Referat Innerdeutsche Beziehungen, das die
deutsch-deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zusammen mit
dem damaligen Bundesminister Theo Waigel und Staatssekretär Horst
Köhler vorbereitete. Von 1990 bis 1991 arbeitete Sarrazin für
die Treuhandanstalt. Bis 1997 war er Staatssekretär im Ministerium
der Finanzen Rheinland-Pfalz, danach Vorsitzender der Geschäftsführung
der Treuhandliegenschaftsgesellschaft (TLG IMMOBILIEN).
Von 2000 bis
Dezember 2001 war er bei der Deutschen Bahn, von Januar 2002 bis April 2009
Berliner Senator für Finanzen und von Mai 2009 bis September 2010
Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank.
Infolge der
Operation eines gutartigen Tumors an Nerven des Innenohrs im
August 2004 ist seine rechte Gesichtshälfte teilweise gelähmt.
Sarrazin ist
seit 1974 verheiratet mit der Grundschullehrerin Ursula Sarrazin geb.
Breit (* 1951), Tochter des ehemaligen DGB-Vorsitzenden Ernst Breit, und
hat zwei Söhne.
Im Dezember
2016 wählte das Magazin Cicero Sarrazin auf Platz fünf seiner Liste
der wichtigsten deutschen Intellektuellen.
Deutsche Bahn AG
Zwischen
Frühjahr 2000 und Dezember 2001 war Sarrazin bei der Deutschen Bahn beschäftigt,
zunächst vier Monate als Leiter der Konzernrevision und ab
1. September 2000 als Vorstandsmitglied der DB Netz, zuständig für
Planung und Investitionen. Der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG stimmte
seiner Abberufung im November 2001 zu. Er wurde bei vollen Bezügen bis zum
Vertragsende 2005 vom Dienst freigestellt. Laut Angaben des ehemaligen
Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG, Hartmut Mehdorn, sei Sarrazin
das einzige Vorstandsmitglied gewesen, von dem er sich während seiner Zeit bei
der DB AG habe trennen müssen. Als Grund führt er an, Sarrazin habe sich nicht
an gemeinsame Beschlüsse gehalten.
Sarrazin gilt
als maßgeblicher Entwickler des Volksaktienmodells der
Deutschen Bahn, das die Ausgabe von stimmrechtslosen Volksaktien
vorsah, um das Mitspracherecht privater Investoren zu begrenzen und das Modell
der Kapitalprivatisierung der Deutschen Bahn zu Fall zu bringen. Er gilt als
Befürworter einer Ausrichtung der Bahn auf Wirtschaftlichkeit gemäß
einer Kosten-Wirksamkeits-Analyse. Sein Verhältnis zu Mehdorn wird als
„Dauerfeindschaft“ beschrieben.
Nach
Sarrazins Entlassung aus dem Vorstand der DB Netz AG unterlag er 2007 als Berliner Finanzsenator
vor dem Bundesgerichtshof in einem Prozess um die Fortsetzung seines
Arbeitsverhältnisses und daraus folgender Gehalts- oder Abfindungsansprüche.
Berliner Senator für Finanzen
Im Januar
2002 wurde Sarrazin Senator für Finanzen im Senat Wowereit II;
ab 2006 gehörte er in gleicher Funktion auch dem nachfolgenden Senat
Wowereit III an.
Bei seinem
Amtsantritt verzichtete Sarrazin öffentlichkeitswirksam auf Senatorenbezüge und
wollte den Haushalt Berlins als „One-Dollar-Man“ sanieren. Die doppelt so hohen
Bezüge aus seinem ruhenden Dienstverhältnis bei der Deutschen Bahn (DB) sollten
seiner Auffassung nach jedoch weitergezahlt werden. Die Deutsche Bahn
lehnte die Gehaltsfortzahlung unter Verweis auf das Berliner Senatorengesetz
und mit der Begründung ab, dass ein Senator keine anderweitigen Entgelte
beziehen dürfe, um seine Unabhängigkeit zu gewährleisten. Der
Arbeitsvertrag mit Sarrazin war nach Auffassung der DB rechtswirksam gekündigt
worden, weil der Senator es versäumt habe, die Zustimmung des
Bahn-Aufsichtsrats zu seiner Berufung in den Senat einzuholen. Das Landgericht
Frankfurt am Main wies eine entsprechende Klage Sarrazins auf
Gehaltsfortzahlung durch die DB am 19. Juni 2002 ab.
Sarrazin
hielt an der klassischen Kameralistik für die Haushaltsführung
kommunaler Behörden fest. Materiell führte er eine strenge Spar- und Haushaltspolitik durch.
2007 kam es zum ersten Mal in der Geschichte des Landes Berlin zu einem
Haushaltsüberschuss (80 Millionen EUR).
Mit 46
Nebentätigkeiten war Sarrazin im Juni 2008 das Senatsmitglied mit den meisten
Nebentätigkeiten. Er war unter anderem Mitglied des Aufsichtsrats der Berliner
Verkehrsbetriebe, der Charité, der Investitionsbank Berlin und
der Vivantes GmbH.014
Im Rahmen
der Tempodrom-Affäre wurde ihm vorgeworfen, Landesgelder regelwidrig
vergeben zu haben. Die Staatsanwaltschaft erhob im November 2004 Anklage. Gegen
den ermittelnden Oberstaatsanwalt reichte Sarrazin eine Dienstaufsichtsbeschwerde ein.
Das Landgericht Berlin lehnte im Dezember 2004 die Eröffnung eines
Hauptverfahrens wegen Unschlüssigkeit ab.
Sarrazin
wusste schon 2006 von der rechtswidrigen Vergabepraxis bei Aufträgen der
landeseigenen HOWOGE Wohnungsbaugesellschaft und billigte
sie. Diese hatte in den Jahren von 2002 bis 2009 in 18 Fällen
Planungsaufträge nicht ausgeschrieben, sondern direkt vergeben. Einer der
Hauptauftragnehmer war das Ingenieurbüro des SPD-Politikers Ralf
Hillenberg. Nach Bekanntwerden der Verstöße wurden die beiden Geschäftsführer
der HOWOGE, die wie Hillenberg SPD-Mitglieder waren, fristlos entlassen.
Ein Untersuchungsausschuss des Parlaments befasste sich mit dem
Vorgang; die Opposition bemängelte parteiinternen Filz, während die SPD-geführte Regierungskoalition keine
Versäumnisse im rechtlichen Sinn erkannte.
Im Jahr 2007
genehmigte Sarrazin als Aufsichtsratsvorsitzender der Berliner
Verkehrsbetriebe BVG fahrlässig ein riskantes Spekulationsgeschäft,
das er nicht vollständig verstand. In der Aufsichtsratssitzung vom 25. April
2007 dauerte die Behandlung des Punktes des Geschäfts, das eine Collateralized
Debt Obligation (CDO) von JP Morgan beinhaltete, inklusive
Abstimmung nur vier Minuten. Nur ein Aufsichtsratsmitglied sprach eine fehlende
Stellungnahme zu Risiken durch BVG-Anwälte an. Sarrazin forderte eine sofortige
Abstimmung. Ohne Gegenstimme, bei Enthaltung durch die Arbeitnehmervertreter,
wurde das Geschäft genehmigt. Im Jahr 2008 führte es zu einem Verlust von 204
Mio. EUR. In einer Klageschrift gegen die Bank JP Morgan führt die
BVG vor einem Londoner Gericht aus, dass derartige Geschäfte ihr als Anstalt
des öffentlichen Rechts durch Gesetz und Satzung verboten und
daher nichtig seien. Strafrechtlich ist der Vorgang nach fünf Jahren verjährt.
Schadensersatzforderungen gegen die Geschäftsführung und den Aufsichtsrat der
BVG werden vom Berliner Senat geprüft.
Im Jahr 2008
entgingen dem Land Berlin bei der Verpachtung eines landeseigenen
Grundstücks an den Golf- und Landclub Berlin-Wannsee e. V. Mehreinnahmen
von drei Millionen Euro, als Sarrazin eigenmächtig auf eine
Nachbesserungsklausel bei Verlust der Gemeinnützigkeit verzichtete. Zuvor
hatte das Berliner Landesparlament den Verkauf des Grundstücks für 3,8 Mio. EUR
an den Golfclub abgelehnt. Parlament und Steuerzahlerbund kritisierten
den Vorgang. Staatsanwaltschaft und Senat schlossen eine
strafrechtliche Begünstigung durch Thilo Sarrazin aus.
Zum 30. April
2009 legte Sarrazin sein politisches Amt nieder, um in den Vorstand
der Bundesbank zu wechseln; sein Nachfolger im Amt des Berliner
Senators für Finanzen wurde Ulrich Nußbaum.
Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank
Die Berufung
in den Vorstand der Deutschen Bundesbank erfolgte auf Initiative des
Landes Berlin, gegen den Willen des Bundesbankpräsidenten Axel
A. Weber.
Aufgrund
seines Auftretens verweigerte der Bundesbankvorstand dem neuen Mitglied
Sarrazin internationale Aufgaben; ihm wurden lediglich die Aufgabengebiete
über Bargeld, Risiko-Controlling und Informationstechnologie zugeteilt. Später
erzählte Sarrazin: „Als Bundesbanker war die Arbeit der Woche nach eineinhalb
Tagen dienstagmittags getan.“ So widmete er sich – auch unter Einsatz von
Bundesbankpersonal – seinen außerdienstlichen Angelegenheiten als Lehrbeauftragter
an der Verwaltungshochschule in Speyer und Buchautor.
Als im Mai
2009 ein provokantes Interview mit Thilo Sarrazin zu bankfremden
Themen im Wochenmagazin Stern erschien, distanzierte sich die
Bundesbank umgehend von den Äußerungen ihres Vorstandsmitglieds.
Äußerungen
Sarrazins über arabische und türkische Einwanderer in einem Interview
gegenüber der Kulturzeitschrift Lettre International wurden
seitens der Bundesbank am 30. September 2009 missbilligt. Die Bank distanzierte
sich „entschieden in Inhalt und Form“ von den „diskriminierenden Äußerungen“
Sarrazins. Am 1. Oktober 2009 reagierte Sarrazin mit einer persönlichen
Mitteilung. Es sei nicht seine Absicht gewesen, einzelne Volksgruppen zu diskreditieren.
Er versprach, in Zukunft „bei öffentlichen Äußerungen mehr Vorsicht und
Zurückhaltung“ walten zu lassen. Bundesbankpräsident Axel Weber stellte am
3. Oktober 2009 öffentlich fest, für die Bundesbank sei ein Reputationsschaden entstanden,
der schnell behoben werden müsse. Das wurde als indirekte Rücktrittsaufforderung
an Sarrazin interpretiert. Als dieser ablehnte, entzog der Vorstand ihm
das Ressort Bargeld. Sarrazin verblieben die
Geschäftsbereiche Risiko-Controlling und Informationstechnologie; im
Mai 2010 kam der Bereich Revision hinzu.
In
Zusammenhang mit der Debatte um das Buch Deutschland schafft sich ab geriet
Sarrazin Ende August 2010 erneut unter Druck. Die Bank warf ihm vor, er
habe mit seinen provokanten und diskriminierenden Äußerungen, „insbesondere zu
Themen der Migration“, „fortlaufend und in zunehmend schwerwiegendem Maße“
das Gebot der politischen Mäßigung verletzt und dem Ansehen der Institution
Schaden zugefügt. Auch seien die abwertenden Äußerungen geeignet, den Betriebsfrieden erheblich
zu beeinträchtigen, zumal zahlreiche Mitarbeiter einen Migrationshintergrund hätten. Ein
freiwilliges Ausscheiden lehnte Sarrazin zunächst ab. Am 2. September 2010
beantragte der Vorstand der Deutschen Bundesbank beim Bundespräsidenten,
Sarrazin als Vorstand abberufen zu lassen; zugleich wurden ihm mit sofortiger
Wirkung seine Geschäftsbereiche entzogen. Zwei Tage später
warnte Sarrazin den nun in der Sache zuständigen Bundespräsidenten Christian
Wulff vor einem „politischen Schauprozess“ und drohte indirekt mit
Klage gegen eine etwaige Entlassung.
In Verhandlungen
unter Beteiligung des Bundespräsidialamtes wurde am 9. September 2010
erreicht, dass der Vorstand der Bundesbank die gegen ihn erhobenen Vorwürfe
nicht mehr aufrechterhält, Sarrazin beim Bundespräsidenten um seine
Amtsentbindung bittet und die Bundesbank ihr Entlassungsgesuch
zurückzieht. Beide Vertragspartner einigten sich darauf, dass Sarrazin
eine Pension in der Höhe erhält, wie sie ihm regulär ab 2014
zugestanden hätte, wäre der Vertrag nicht vorzeitig aufgelöst worden. Gegenüber
dem ersten Pensionsangebot der Bundesbank für seine 17 Monate im Amt erhält
Sarrazin tausend Euro mehr pro Monat, ausgelegt auf die gesamte ursprüngliche
Vertragslaufzeit.
Politiker aus
Regierung und Opposition begrüßten diese Vereinbarung. Regierungssprecher Steffen
Seibert sagte, es sei gut, „dass es diese einvernehmliche Regelung jetzt
gibt“, da nun die Bundesbank in Ruhe weiterarbeiten könne. Der
Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan
Kramer, sprach hingegen von einem „faulen Kompromiss“, der „eine Schande“ für
das ganze Land sei. Es sei die Chance verpasst worden, mit einem Rauswurf
Sarrazins eine klare Linie zu ziehen, dass solcher Rassismus in unserer
Gesellschaft nicht tolerierbar sei.
Der Bund
der Steuerzahler kommentierte: „Sollte der Abschied nun auch noch
zusätzlich vergoldet werden, hat das nicht nur ein Geschmäckle, sondern das ist
nicht in Ordnung.“ Die stellvertretende Bundesvorsitzende der Partei Die
Linke, Katja Kipping, kritisierte: „Sarrazin wird durch Hetze reich und
erhält dafür offenbar sogar noch Amtshilfe aus dem Bundespräsidialamt. Das ist
ein goldener Handschlag in Raten.“
Politische Positionen
Finanzpolitische Standpunkte
In einem
Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 28.
Januar 2012 sprach sich Sarrazin für eine ersatzlose Abschaffung des Länderfinanzausgleichs aus.
Dieser sei ein ordnungspolitischer Fehler gewesen. Angesichts
der weiter schwelenden Eurokrise vertrat er im Mai 2012 die Ansicht,
„Europa könnte auch ganz gut ohne den Euro leben“. Der Euro werde
nur dann dauerhaft funktionieren, wenn sich die anderen Länder in ökonomischen
Fragen grundsätzlich wie Deutschland verhielten. Wenn zu erkennen sei, dass die
anderen das nicht wollten, müsse man die Konsequenzen ziehen. Die
Einführung des Euro sei ein Fehler gewesen und vor allem aufgrund des Wunsches
des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, der damit einen Schritt in
Richtung auf die politische Vereinigung Europas habe machen wollen, geschehen.
Das sei aber „ein Akt der politischen Irreführung“ gewesen.
Einwanderung
Sarrazin
gehörte Anfang 2018 zu den Erstunterzeichnern einer Gemeinsamen
Erklärung 2018, in der es heißt: „Mit wachsendem Befremden beobachten wir,
wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir
solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die
rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird.“
Neben Sarrazin unterzeichneten unter anderem Uwe Tellkamp, Eva Herman, Max
Otte, Karlheinz Weißmann und Martin Semlitsch die
Erklärung. Illustriert wird die Erklärung mit dem Foto eines
Frauenmarsches. Nach Recherchen von Martin Machowecz gehöre
Sarrazin neben Matthias Matussek, Monika Maron, Cora Stephan, Vera
Lengsfeld und Junge-Freiheit-Chefredakteur Dieter Stein zu
einer hinter dieser Erklärung stehenden Gruppe rund um deren Initiator Jörg
Baberowski. Regelmäßiger Treffpunkt der Gruppe sei die Bibliothek des
Konservatismus, deren Stiftungsvorstand Stein vorsitzt. Die Erklärung
wurde auch deshalb als „erstaunliche Allianz bürgerlicher und nationaler
Konservativer und neurechter Verschwörungstheoretiker“
aufgenommen. Bei einer Kundgebung auf dem Hambacher Schloss Anfang
Mai 2018 attestierte die NZZ dem scharf formulierenden Sarrazin,
unter den Rednern der Zurückhaltendste gewesen zu sein.
Angesichts
der Solidaritätsdemonstrationen arabischstämmiger Einwanderer für die
palästinensische islamistische Bewegung Hamas nach
deren Terrorangriff auf Israel im Oktober 2023 forderte der
CDU-Vorsitzende Friedrich Merz die SPD-geführte Bundesregierung auf,
bei Einbürgerungen ein Bekenntnis zu Israel zu verlangen. Nach den Worten Merz’
hätte die SPD besser auf Sarrazin hören sollen, anstatt ihn
auszuschließen: „Es wäre hilfreich gewesen, auf ihn und andere zu hören
und sich mit diesem Problem mehr auseinanderzusetzen“, so Merz.
Kontroversen
Die Thesen
von Sarrazin finden sowohl bei seinen Buchveröffentlichungen als auch bei
seinen Auftritten immer wieder mediale Aufmerksamkeit. Auch kommt es wiederholt
zu Demonstrationen, zum Beispiel an Universitäten, wo vor allem politisch linke
Gruppen bestimmte Veranstaltungen zu verhindern versuchen. So hat die Universität
Siegen entsprechende Vorfälle zum Anlass für eine Stellungnahme genommen.
Tipps für Hartz-IV-Empfänger und Positionen zur
Altersversorgung
Im Februar
2004 plädierte Sarrazin in der Talkshow Sabine Christiansen dafür,
das System der Beamtenpension alsbald auslaufen zu lassen. Die
Pensionslasten des Staates müssten deutlich sinken. „Das wird eine harte
Diskussion werden, da muss man aber ran“, meinte Sarrazin. Auch kritisierte er
die Höhe der Pensionen. Die Zusatzversorgung der Angestellten des öffentlichen
Dienstes sei zu kürzen und später ganz abzuschaffen. Zudem kündigte er an,
dass Lehrer in Berlin künftig nicht mehr verbeamtet werden sollen.
Vorschläge
Sarrazins zu einer Änderung der Berliner Sozial- und Bildungspolitik,
insbesondere für Kürzungen im sozialen Bereich, waren oft von Protesten
begleitet. Im Februar 2008 gab er Tipps, wie ALG-II-Empfänger sich
für weniger als vier Euro pro Tag ernähren könnten. Kritik dazu kam vom Deutschen
Caritasverband, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und der damaligen
Berliner Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner. Der CDU-Politiker
und frühere Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, Heiner
Geißler, stellte fest: „Die Fehler, Irreführungen und defizitären Argumente des
Senators schreien zum Himmel und werfen ein schlechtes Licht auf die Berliner
Finanzverwaltung.“ Man dürfe auch fragen, „ob ein Berliner Regierungsmitglied
mit ‚Geiz ist geil‘-Parolen arme Leute folgenlos verhöhnen darf“. Wenn
Massenarmut in Wut und Aggression umschlügen, trügen auch „politische
Provokateure wie Sarrazin“ dafür die Verantwortung.
Im Mai 2009
sagte Sarrazin gegenüber dem Magazin Stern zum Umgang Arbeitsloser
mit Energie: „‚Hartz-IV‘-Empfänger sind erstens mehr zu Hause; zweitens haben
sie es gerne warm, und drittens regulieren viele die Temperatur mit dem
Fenster.“ Das Sozialsystem müsse so geändert werden, „dass man nicht durch
Kinder seinen Lebensstandard verbessern kann, was heute der Fall ist“. Vielmehr
müsse die Politik dafür sorgen, dass nur diejenigen Kinder bekommen, die „damit
fertig werden“. Die Rentenerhöhung vom Juli 2009 nannte er eine „völlig
unsinnige Maßnahme“, stattdessen müsse die Bundesregierung die Bürger
darauf vorbereiten, dass Altersbezüge „langfristig auf das Niveau einer Grundsicherung“
sinken werden. Der Sozialverband VdK Deutschland reagierte
empört: „Es ist an Absurdität kaum zu übertreffen, dass man seinen
Lebensstandard durch Kinder verbessern können soll. Diese Frauen brauchen mehr
und nicht weniger staatliche Unterstützung für ihre Kinder – und keine
zynischen Kommentare von Herrn Sarrazin.“
Interview in Lettre International
Heftige
Reaktionen riefen Sarrazins Äußerungen zur Wirtschafts- und Migrationspolitik Berlins
hervor, die im September 2009 in der Kulturzeitschrift Lettre
International publiziert worden waren. Die Stadt sei belastet von
zwei Komponenten: „der 68er-Tradition und dem Westberliner Schlampfaktor“.
Berlin sei in seinen politischen Strömungen „nicht elitär aufgestellt, sondern
in seiner Gesinnung eher plebejisch und kleinbürgerlich“. Große Teile der arabischen und türkischen
Einwanderer seien weder integrationswillig noch
integrationsfähig. Berlin habe besonders viele „Benachteiligte aus
bildungsfernen Schichten“, und es gebe auch „keine Methode, diese Leute
vernünftig einzubeziehen“. Es finde eine „fortwährende negative Auslese“
statt. Sarrazin forderte Elitenförderung und das „Auswachsen“ von „etwa zwanzig
Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden“. In diesem
Zusammenhang schlug er unter anderem die komplette Streichung von Transferleistungen für
Ausländer aus der „Unterschicht“ vor. Über die türkischen und arabischen
Migranten äußerte er wörtlich:
„Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die
Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate.
[…] Integration ist eine Leistung dessen, der sich integriert.
Jemanden, der nichts tut, muss ich auch nicht anerkennen. Ich muss niemanden
anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner
Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen
produziert. Das gilt für 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der
arabischen Bevölkerung in Berlin.“
Nach scharfer
Kritik aus der Bundesbank schrieb Sarrazin in einer persönlichen
Mitteilung, die am 1. Oktober 2009 veröffentlicht wurde, er habe „die Probleme
und Perspektiven der Stadt Berlin anschaulich beschreiben“, nicht aber einzelne
Volksgruppen diskreditieren wollen. „Sollte dieser Eindruck entstanden sein,
bedauere ich dies sehr und entschuldige mich dafür.“ Unterstützt wurden
Sarrazins Interviewäußerungen unter anderem von Hans-Olaf Henkel, Ralph
Giordano und der Sozialwissenschaftlerin und Islamkritikerin Necla
Kelek. Der deutsche Altbundeskanzler Helmut Schmidt pflichtete
Sarrazin in Bezug auf die Leistungen der deutschen Juden während
der Weimarer Republik bei. Der innenpolitische Sprecher
der NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag, Andreas Storr,
kommentierte: „Die Äußerungen von Thilo Sarrazin gehören zu den wenigen
konstruktiven Vorschlägen, die ein Angehöriger der politischen und ökonomischen
Eliten der BRD in den vergangenen Jahren zur Lösung der mit der Zuwanderung
verbundenen Probleme gemacht hat.“ Ein Ausschluss der „in Deutschland lebenden
Ausländer“ vom Bezug staatlicher Transferleistungen, „wie Sarrazin ihn
vorschlägt“, würde Storrs Meinung nach nicht nur „zahlreiche Haushaltsprobleme
lösen“, sondern auch „der Bildung von Parallelgesellschaften auf deutschem
Boden einen Riegel vorschieben“. Storr bezeichnete es als „gutes Zeichen für
Deutschland“, „wenn die neue Bundesregierung Thilo Sarrazin trotz seines
SPD-Parteibuches zum Ausländerbeauftragten machen würde“. Eine „geordnete Rückführung
der in Deutschland lebenden Ausländer in ihre Heimatländer“ könne dann „endlich
in Angriff genommen“ werden. Michael Klonovsky vom Focus meinte
im August 2010 rückblickend auf das Interview, Sarrazin habe es gewagt, „die
Kollateralschäden der Umverteilung am Beispiel der heillos verschuldeten
Hauptstadt zu benennen, in der eine wachsende arbeits- und
integrationsunwillige Unterschicht die Partylaune des Oberbürgermeisters
freilich nur in Maßen verdirbt“.
Kritik kam
unter anderem vom damaligen Vorsitzenden des Innenausschusses des
Deutschen Bundestages, Sebastian Edathy (SPD), dem Paritätischen
Wohlfahrtsverband, der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und dem
Politikwissenschaftler Gerd Wiegel. Arno Widmann, Feuilletonchef
der Frankfurter Rundschau, meinte über Sarrazin: „Er reagiert nur
hysterisch auf die Veränderung bundesrepublikanischer Verhältnisse. Er ist
verrückt.“ Der Zeit-Journalist Christian Staas fühlte sich
durch Sarrazins Interview-Äußerungen an rassenbiologische Schriften
erinnert und bezeichnete die sozial- und bevölkerungspolitische Programmatik
als „eugenisches Projekt“. Der Generalsekretär des Zentralrats
der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, nannte die Interview-Äußerungen
Sarrazins auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Bundesvorsitzenden
der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, „perfide, infam
und volksverhetzend“. Die Analyse Sarrazins über Probleme der Unterschichten
erinnere an die Untermenschen-Terminologie der Nazis. Kolat sprach
von „stigmatisierend und menschenverachtend“. Urheber derartiger Sätze müssten
von den Gerichten verfolgt werden. Er habe Axel Weber einen Brief geschrieben
und um ein Gespräch gebeten. Dabei solle die Forderung nach einem Rücktritt
Sarrazins nochmal „stärker formuliert“ werden.
Der Direktor
des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, Reiner
Klingholz, kritisierte, vieles von dem, was Sarrazin behauptete, sei
statistisch nicht belegbar, und nannte als Beispiel die These, dass 70 Prozent
der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung Berlins den Staat
ablehnten und in großen Teilen weder integrationswillig noch integrationsfähig
seien. Konfrontiert mit dieser Kritik, äußerte Sarrazin einem SZ-Reporter
gegenüber, wenn man keine Zahl habe, dann müsse „man eine schöpfen, die in die
richtige Richtung weist. Und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich
mich mit meiner Schätzung durch.“
Der Türkische
Bund Berlin-Brandenburg (TBB) erstattete nach den Äußerungen Sarrazins in der
Zeitschrift Lettre International Strafanzeige wegen
Volksverhetzung und Beleidigung bei der Staatsanwaltschaft Berlin. Diese
stellte das Verfahren jedoch ein. Eine Beschwerde des TBB wurde durch die
Generalstaatsanwaltschaft zurückgewiesen. Im Juli 2010 legte der TBB daraufhin
Beschwerde beim UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD)
ein.
Am 4. April
2013 veröffentlichte der CERD seine Rüge vom 26. Februar 2013 bezüglich der
Beschwerde des TBB. Es wurde festgestellt, dass „das Fehlen einer effektiven
Untersuchung der Äußerungen von Herrn Sarrazin durch die Staatsanwaltschaft“
einer Verletzung des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder
Form von Rassendiskriminierung gleichkam. Thilo Sarrazin habe im Lettre-Interview
„die Ideologie rassischer Überlegenheit und von Rassenhass verbreitet“ und zu
„rassistischer Diskriminierung angestiftet“. Die UN erwarte, dass Deutschland
seine Politik und seine Verfahren hinsichtlich rassistischer Äußerungen
überprüfe, die Ergebnisse des Ausschusses breit bekannt mache, insbesondere
Staatsanwälten und Gerichten, und innerhalb von 90 Tagen einen Bericht der
Bundesregierung zur Umsetzung der Empfehlung liefere. In einer Verbalnote der
Bundesregierung an den Antirassismus-Ausschuss der UN wurden Anfang Juli 2013
Änderungen der Gesetzgebung zu rassistischen Äußerungen in Aussicht gestellt:
„Die Bundesregierung prüft aktuell die deutsche Gesetzgebung zur Strafbarkeit
rassistischer Äußerungen im Lichte der Äußerungen des Ausschusses.“ Die
Bedeutung des Rechts auf freie Meinungsäußerung werde dabei zu
berücksichtigen sein. Zwischenzeitlich hatte das Bundesjustizministerium die
Berliner Staatsanwaltschaft aufgefordert, die Sach- und Rechtslage nochmals zu
prüfen und dabei „alle Möglichkeiten“ zu nutzen, die Einstellung des
Ermittlungsverfahrens gegen Thilo Sarrazin „zu überdenken“. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin
gab im Juli 2013 bekannt, dass es im Ergebnis der Prüfung bei der Einstellung
des Verfahrens geblieben sei.
Die Europäische
Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) stellte eine Ähnlichkeit
der Äußerungen Sarrazins mit jener fest, wegen der Jean-Marie Le Pen im
Jahre 2004 zu 10.000 EUR Geldstrafe verurteilt worden war, und bewertete sowohl
die Reaktion der deutschen Behörden als auch die der SPD als unzureichend.
Zugleich unterstützte die Kommission die Rüge des CERD wegen Verletzung des
Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von
Rassendiskriminierung.
Erstes Parteiordnungsverfahren
Der
SPD-Kreisverband Berlin-Spandau und die Abteilung Alt-Pankow betrieben wegen
Sarrazins Interviewäußerungen in der Zeitschrift Lettre International ein Parteiordnungsverfahren wegen
parteischädigenden Verhaltens gegen ihn. Auf der Grundlage eines
wissenschaftlichen Gutachtens des Politikwissenschaftlers und Extremismusforschers Gideon
Botsch vom Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum stuften sie die
Interviewäußerungen als rassistisch und unvereinbar mit den
Positionen der SPD ein.[109] Gegenüber der SZ kritisierte
Sarrazin, das Gutachten sei intellektuell und moralisch „so unsauber, so
schleimig, so widerlich, dass jeder, der es anfasse, Gefahr laufe, sich zu
beschmutzen“. Darüber hinaus griff er Botsch auch persönlich an. Mitte März
2010 wurden die Anträge gegen Sarrazin durch Urteil der Berliner
SPD-Landesschiedskommission abgewiesen.
Deutschland wird dümmer
Im Juni 2010
löste Sarrazin bei einer Veranstaltung der Arbeitskreise Schule-Wirtschaft der
Unternehmerverbände Südhessen mit seiner These Widerspruch aus, dass der
gesamtdeutsche Intelligenzdurchschnitt durch die Zuwanderung schlecht
ausgebildeter Migranten sinke. Zuwanderer „aus der Türkei, dem Nahen und
Mittleren Osten und Afrika“ wiesen weniger Bildung auf als Einwanderer aus
anderen Ländern, und Einwanderer bekämen zudem mehr Kinder als Deutsche. Es
gebe „eine unterschiedliche Vermehrung von Bevölkerungsgruppen mit
unterschiedlicher Intelligenz“. Intelligenz werde von Eltern an Kinder
weitergegeben, der Erbanteil liege bei fast 80 Prozent. Seine Thesen
wurden von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem SPD-Parteivorsitzenden Sigmar
Gabriel kritisiert, der Sarrazin den Austritt aus der SPD nahelegte.
Deutschland schafft sich ab
Sarrazin
beschreibt in seinem am 30. August 2010 erschienenen Buch Deutschland
schafft sich ab die Folgen, die sich seiner Ansicht nach für Deutschland
aus der Kombination von Geburtenrückgang, wachsender Unterschicht
und Zuwanderung aus überwiegend islamisch geprägten Ländern ergeben
würden. Sarrazins Thesen erzeugten ein erhebliches Echo in den Medien und der
Politik.
Rund um die
Buchveröffentlichung kam es zu verschiedenen Interviews und Talkshowauftritten.
Die Berliner Morgenpost fragte Sarrazin, ob er der Meinung
sei, dass es auch eine „genetische Identität“ der Völker gebe. Mit seiner
Antwort, „[a]lle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben
bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden“, rief Sarrazin
weitgehend Widerspruch hervor. Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats
der Juden in Deutschland, erwiderte: „Wer die Juden über ihr Erbgut zu
definieren versucht, auch wenn das vermeintlich positiv gemeint ist, erliegt
einem Rassenwahn, den das Judentum nicht teilt.“ Sarrazin erklärte in
der Sendung Beckmann, er habe sich dabei auf den Artikel Abrahams
Kinder im Tagesspiegel und einen Bericht der New
York Times bezogen, die über neue Genforschungen
berichteten. Derartige Studien ergaben, dass Juden aus verschiedensten
Gegenden bestimmte Erbmerkmale teilen, also tatsächlich eine Abstammungsgemeinschaft bilden,
die aber stark mit anderen Bevölkerungsgruppen durchmischt ist. In einer schriftlichen
Erklärung zitierte er entsprechende Zeitschriften, Nature und American
Journal of Human Genetics, und bedauerte, durch unpräzise Ausdrucksweise
für Irritationen und Missverständnisse gesorgt zu haben. Am
1. September 2010 bezeichnete er in der Fernsehsendung hart aber
fair seine Behauptung, alle Juden teilten ein bestimmtes Gen, als
„Riesenunfug, was ich auch extrem bedauere. Ich habe aber nichts Falsches
gesagt, sondern ich war dabei auszuführen, dass die Unterschiede der
muslimischen Migranten zu anderen Migranten eben gerade keine ethnischen Ursachen
haben, sie haben im Gegenteil kulturelle Ursachen.“ Er sei definitiv
nicht der Ansicht, „dass es eine genetische Identität gibt“, und habe im
Interview lediglich auf allgemeine genetische Ähnlichkeiten hinweisen wollen,
wobei ihm die Juden als Erstes eingefallen seien. „Es war natürlich keine
genetische Identität in dem Sinne, dass man sagt: Diejenigen, die irgendwo ein
gemeinsames Gen teilen oder eine Gruppe von Genen teilen, sind von daher als Personen
irgendwie identifiziert.“ Sarrazin bezeichnete es als „Dummheit“, die Äußerung
im Interviewtext nicht nachträglich gestrichen zu haben, und es sei sein „Blackout“
gewesen, sich von der Zeitung „aufs Glatteis“ führen gelassen zu
haben. Dennoch wurde die Aussage unter dem Stichwort Sarrazin-Gen diskutiert,
das schließlich die Jury für das Wort des Jahres 2010 auf den dritten
Platz ihrer Liste setzte.
Kritisiert
wurde unter anderem auch Sarrazins Umgang mit Statistiken. So äußerte Berlins
Innensenator Ehrhart Körting: „Er [Thilo Sarrazin] hatte immer eine
Vorliebe für Statistiken. Aber er nutzt in der Integrationsdebatte nur jene,
die ihm ins Feindbild passen.“ Die Psychologen Detlef Rost und Heiner
Rindermann, deren Werke Sarrazin als Quellen angegeben hatte, bestätigten kurz
nach Buchveröffentlichung, dass sich Intelligenzunterschiede von Menschen –
abhängig von deren Alter und den Umweltbedingungen – „zu fünfzig bis achtzig
Prozent durch genetische Faktoren aufklären lassen“, und bewerteten „die von Sarrazin
angeführten Zahlen“, die sich auf die „Bedeutung der Genetik für
Intelligenzunterschiede“ beziehen würden, als „korrekt“. Sarrazins Thesen
seien, „was die psychologischen Aspekte betrifft, im Großen und Ganzen mit dem
Kenntnisstand der modernen psychologischen Forschung vereinbar.“ Andreas
Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in
Berlin, warf Sarrazin im August 2012 vor, dass er die „Erblichkeit der
Intelligenz“ nach Fehlinterpretation der Quellen mit 80 Prozent deutlich zu
hoch angesetzt habe und zudem für Türkeistämmige spezifische soziale Faktoren
wie Armut oder Benachteiligung für die Erklärung von IQ-Werten unberücksichtigt
ließ. Später führte Heinz aus, Sarrazin habe bei der Auswertung einer
Tabelle Rosts eine Fußnote desselben übersehen oder unterschlagen und so
fälschlicherweise gefolgert, dass die Erblichkeit 82 Prozent betragen würde.
Rost selbst komme korrekterweise auf 52 Prozent Erblichkeit der
IQ-Testleistung. Es sei erstaunlich, einen so kapitalen Fehler in der Mitte
einer insgesamt kontroversen Diskussion zu finden. Völlig unverständlich aber
sei, dass Rost und Rindermann in ihrer Stellungnahme zur wissenschaftlichen
Korrektheit von Sarrazins Zahlen in der FAZ vom 7. September
2010 diesen Fehler nicht bemerkten oder nicht bemerkt haben wollten und
Sarrazin bescheinigten, dass seine Zahlen im Großen und Ganzen richtig seien.
Ähnlich wie bei der „Fabrikation der Bell Curve“ finde sich hier im
Kern der Argumentation ein Vorgehen, „das man bestenfalls als Schlampigkeit und
schlimmstenfalls als bewusste Täuschung bezeichnen“ müsse.
Im Zuge der
Kontroverse um das Buch gab Sarrazin seinen Posten als Bundesbankvorstand auf.
Nach Ansicht des Migrationsforschers Klaus Jürgen Bade habe sich die
von Sarrazin angestoßene Debatte negativ auf die Stimmung der Einwanderer wie
auch auf den Optimismus hinsichtlich Integration in der deutschen
Bevölkerung ausgewirkt. So behauptete der Migrationsforscher, die
Attraktivität Deutschlands nach außen habe durch die Äußerungen
Sarrazins gelitten. In Umfragen sei zudem ein eklatanter Vertrauensverlust
gegenüber Einwanderern zu diagnostizieren. Sarrazin habe Deutschland damit „ein
doppeltes Eigentor beschert“. Bade sah in Sarrazin einen „als Aufklärer
getarnten Brandstifter und Friedensbrecher in der Einwanderungsgesellschaft“.
Eine
Auswertung von Media Control ergab, dass Deutschland schafft
sich ab zu den meistverkauften Sachbüchern in gebundener
Form (Hardcover) seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland
gehört. Bis Anfang 2012 wurden über 1,5 Millionen Exemplare
verkauft. Das Buch stand 2010 und 2011 insgesamt 21 Wochen lang auf Platz
1 der Spiegel-Bestsellerliste.
Zweites Parteiordnungsverfahren
Im
Zusammenhang mit den von Sarrazin vertretenen Thesen zur Bevölkerungs-, Bildungs-
und Sozialpolitik wurde erneut ein Parteiordnungsverfahren gegen ihn
mit dem Ziel des Parteiausschlusses aus der SPD
angestrengt. 2010 hatte der SPD-Parteivorstand dazu einen eigenen Stab
eingerichtet, Anwälte engagiert und einen Ausschlussantrag formuliert. Aufgrund
des großen Zuspruchs für Sarrazin von der Basis sah sich die SPD-Generalsekretärin Andrea
Nahles veranlasst, in einer ungewöhnlichen Aktion in einem Brief an alle
Parteimitglieder die Position des Parteivorstands zu Sarrazins Thesen sowie die
Notwendigkeit des angestrebten Parteiausschlusses zu begründen.[135] Auch
der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel setzte sich persönlich für den Ausschluss
Sarrazins ein. Am 16. September 2010 erklärte er in einem Zeit-Artikel
anhand von ausgewählten Zitaten aus Deutschland schafft sich ab Sarrazins
„hoffnungsloses Menschenbild“ und „[w]arum die SPD einen Thilo Sarrazin in
ihren Reihen nicht dulden kann“: Sarrazin führe keine Integrations-,
sondern eine Selektionsdebatte. Er greife dabei ganz offen auf Francis
Galton zurück, allerdings ohne seine Leser darüber aufzuklären, wer das
eigentlich sei. Der „Hobby-Eugeniker Sarrazin und seine medialen
Helfershelfer“ seien dabei, Theorien der staatlichen Genomauswahl wieder
„salon- und hoffähig“ zu machen. „Andere und Schlimmere“ würden sich noch
darauf berufen. Wem es bei der Botschaft „neues Leben nur aus erwünschten
Gruppen“ nicht kalt über den Rücken laufe, der habe wohl nichts begriffen.
Thilo Sarrazin müsse sich entscheiden, ob er dafür wirklich in Anspruch
genommen werden will. Die SPD jedenfalls wolle sich damit nicht in Verbindung
bringen lassen.
In
einem FAZ-Artikel vom 18. September 2010 bestritt Sarrazin die
Vorwürfe energisch. Ihn mit dem Hinweis, er sei „Eugeniker“, politisch
stigmatisieren zu wollen und ihm vorzuwerfen, er bereite „den Boden für
Hassprediger im eigenen Volk“, sei „unzulässig und ehrabschneidend“. Wer heute
über die Zukunft nachdenke „und dabei auch Fragen der Intelligenz, der Genetik
und der Evolutionsbiologie anschneidet“, dem dürfe nicht „reflexhaft
unterstellt“ werden, er wolle Menschen diskriminieren oder sie in ihren
Rechten, Freiheiten und ihrer Würde beschränken. Über seine Thesen könne man
streiten. „Der Versuch, demographische und bevölkerungspolitische Fragen aus
dem politischen Diskurs zu verbannen“, führe aber nicht weiter. Die
deutsche Sozialdemokratie solle sich diesen Fragen nicht
verschließen.
Das Verfahren
vor der Parteischiedskommission des Kreises Charlottenburg-Wilmersdorf, in dem
Sarrazin von dem ehemaligen Hamburger Ersten Bürgermeister Klaus von
Dohnanyi verteidigt wurde, wurde am 21. April 2011 nach einer ersten
Anhörung und einer persönlichen Erklärung Sarrazins eingestellt. Er stellte
darin fest, dass es „insbesondere nicht meiner Überzeugung [entspricht], Chancengleichheit
durch selektive Förderungs- und Bildungspolitik zu gefährden; alle Kinder sind
als Menschen gleich viel wert“. Zudem bekannte er sich ausdrücklich zu den
Grundsätzen der Sozialdemokratie. Gleichzeitig widerrief oder relativierte er
nach eigenen Aussagen „keine einzige Zeile“ aus seinem Buch. Einen Austritt aus
der SPD zog er nicht in Erwägung, da sich seit seinem Eintritt 1973 in die
Partei die Gründe für diesen Schritt nicht verändert hätten und da das
Scheitern des Parteiausschlusses in der Öffentlichkeit als Bestätigung gewertet
werde, dass seine Thesen den Statuten und Grundwerten der SPD nicht
widersprächen.
Diese
„gütliche Einigung“ wurde in den Medien als Rückzug und Desaster für den
SPD-Vorstand, Zeichen einer erheblichen Verunsicherung der Partei und auch als
persönliche Niederlage für Gabriel und Nahles gewertet. Unmittelbar im
Anschluss äußerten SPD-Politiker, darunter SPD-Präsidiumsmitglied Ralf
Stegner, der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Saarland, Ulrich
Commerçon, der Juso-Bundesvorsitzende Sascha Vogt und der bayerische
Juso-Landesvorsitzende Philipp Dees Unverständnis für die Verfahrenseinstellung
und den Verbleib Sarrazins in der SPD. Der Bundestagsabgeordnete Sebastian
Edathy drohte Sarrazin, falls dieser „sich erneut biologistisch äußern
[sollte], wäre sein Ausschluss aus der SPD unumgänglich“. Aus dem Berliner
Landesverband, der kurz vor dem Wahlkampf stand, wurde über starke Proteste von
der Basis und erste Parteiaustritte berichtet.
Erleichterung
über den Verfahrensausgang bekundete hingegen der
SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier. Auch der prominente
Berliner SPD-Bezirks-Bürgermeister von Neukölln und
Sarrazin-Fürsprecher Heinz Buschkowsky sprach von einem „Sieg der
Vernunft“ und meinte, dass sich „alle bewegt [haben]. Thilo hat gesagt, er will
jetzt lieb sein. Na ja, das Eis ist dünn. Aber wir sollten uns jetzt lieber um
die Lösung von Integrationsproblemen kümmern.“ Alt-Bundeskanzler Helmut
Schmidt äußerte in einem Interview bei Menschen bei Maischberger am
14. Dezember 2010, dass das Parteiausschlussverfahren gegen Sarrazin „richtiger
Unfug“ gewesen sei. Manches von dem, was Sarrazin an Problemen dargestellt
habe, sei „richtig gesehen“, „mit Recht angesprochen“ und habe „eine Diskussion
ausgelöst, die dringend notwendig war“, anderes sei „übertrieben“. Sein Fehler
sei vor allem gewesen, dass er „Vererbung in einen Topf geworfen [habe] mit
kultureller Tradition“.
Eugenik und Biologisierung des Sozialen
Sarrazins
bevölkerungstheoretische Thesen und Forderungen sind in der Bundesrepublik
unter anderen von Haller/Niggeschmidt (2012) als ein Anknüpfen an Traditionen
der politischen Eugenik[ bzw. der Rassenhygiene (Niephaus,
2012)[ und insofern als Bruch eines Tabus (Hentges,
2010) beschrieben worden.
Peter
Weingart bejahte 2012 die Frage „Ist Sarrazin
Eugeniker?“. Festgestellt wurde, dass Thilo Sarrazin seine zentrale
Argumentation in Deutschland schafft sich ab auf die
Grundthesen bzw. Prämissen des Eugenikers Francis Galton aufbaue, den
er als Begründer der frühen Intelligenzforschung bezeichne, und vor diesem
Hintergrund bevölkerungspolitische Forderungen nach schichtspezifischen
„Gebäranreizen“ aufstelle. „Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist“
sei seine programmatische Forderung. Veronika Lipphardt schrieb im Freitag 2010
dazu: „Hätte Sarrazin nicht selbst darauf bestanden, Eugeniker und
Rassenbiologen des frühen 20. Jahrhunderts zu zitieren, dann würden seine
Thesen nicht unbedingt darauf hinweisen, dass er althergebrachten rassenbiologischen
oder eugenischen Theorien anhängt.“ Das Ziel der Eugenik-Theorien im
England des späten 19. Jahrhunderts sei gewesen, „das obere Viertel der
Normalverteilung der ‚Intelligenz‘ zur Fertilität anzuregen und die Fertilität
des unteren Viertels zu stoppen. Dabei dachte Galtons Eugenik noch nicht an
radikale Forderungen wie es die Kastration […] oder gar die ‚Euthanasie‘ für
‚Idioten‘ und ‚Imbezille‘ in Nazideutschland waren – wohl aber an
Heiratsverbote, wie sie Sarrazin ebenfalls vorschweben“, argumentierte Jürgen
Link 2011. Ausgehend von den Thesen aus Sarrazins Buch Deutschland
schafft sich ab beschäftigte sich 2012 die III. Internationale Hartheim-Konferenz
mit der Frage, ob und wieweit biologische Deutungsmuster sozialer Gegebenheiten
in der Gesellschaft auf dem Vormarsch seien. Phänomene wie soziale Schichtung,
Intelligenz oder Integration von Migranten in die Aufnahmegesellschaften würden
– so die These der Hartheim-Konferenz – wieder vermehrt auf die Biologie, das
heißt auf die Annahme genetisch bedingter Verhaltensweisen,
zurückgeführt. Danny Oestreich zeigte im Jahre 2014 weitere Verbindungen
zwischen dem frühen englischen Sozialdarwinismus und Sarrazins Thesen zur
Bevölkerungsentwicklung auf. Sarrazin übertrage das darwinsche Prinzip der Zuchtwahl
auf den Menschen, kritisiert Oestreich.
Auch Christoph
Butterwegge kritisiert in seinem Essay Salonrassismus. Eine
ideologische Reaktion auf die Angst vor dem sozialen Abstieg, dass
Sarrazin die Unterschiede zwischen biologistischem und kulturalistischem Rassismus
verwische. Bei Sarrazin gebe es einen doppelten, „dualen“ oder hybriden
Rassismus, den der Autor als widersprüchlich charakterisiert. Die Herausgeberin
des Tagungsbandes, Gudrun Hentges, ordnet Sarrazin unter dem
Themenschwerpunkt Rassismus der Eliten ein. In ihrem
Beitrag Zwischen „Rasse“ und Klasse. Rassismus der Eliten im heutigen
Deutschland prüft sie Sarrazins Ideologie. Ausgehend von Albert
Memmis weithin anerkanntem Rassismusbegriff findet Hentges, dass diese als
„rassistisch“ zu bezeichnen sei. Ferner untersucht die Politologin, dabei
anknüpfend an Robert Miles, ideologische Verbindungsglieder zwischen
Rassismus und Sexismus, zwischen Rassismus und Nationalismus sowie die
Verschränkung von Rasse- und Klassediskursen am Beispiel Sarrazins.
Europa braucht den Euro nicht
In seinem im
Mai 2012 erschienenen Buch Europa braucht den Euro nicht sieht
Sarrazin die einzige langfristige Chance für Europa in einem „Kontinent der
Nationalstaaten, der seine Kräfte dort bündelt, wo es zweckmäßig ist, und dort
individuelle Flexibilität lässt, wo das einzelne Land dies wünscht“. Der
Euro sei jedoch ein Zwangskorsett, wodurch „aus der Krise des Währungssystems
eine Legitimitätskrise des politischen Systems“ entstehe. Sarrazin nimmt
außerdem Bezug auf eine Aussage von Helmut Schmidt, der eine Verbindung
zwischen dem Euro und Deutschlands Schuld am Zweiten Weltkrieg gezogen
hatte. Über die Befürworter von Eurobonds unter SPD, den Grünen und der
Linkspartei schreibt er:
„Sie sind außerdem getrieben von jenem sehr deutschen
Reflex, wonach die Buße für Holocaust und Weltkrieg erst endgültig
getan ist, wenn wir all unsere Belange, auch unser Geld, in europäische Hände
gelegt haben.“
Sarrazin
meint, wenn dies bei den Überlegungen der politisch Handelnden tatsächlich eine
Rolle spielen sollte, müsse das offengelegt und sorgfältig von anderen
Argumenten bezüglich der Gemeinschaftswährung getrennt werden.
Der damalige
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) kritisierte Sarrazin mit
den Worten: „Seine Methode, so zu tun, als ob es Denk- oder Sprechverbote in
Deutschland zu bestimmten Themen gibt, gegen die er dann verstößt, hat etwas
sehr Kalkulierendes. Und ist dann auch noch unsinnig.“ Auch Politiker der
SPD und der Grünen kritisierten die Thesen des Buches und warfen
Sarrazin „Geschichtsvergessenheit und Geschichtsblindheit“,
„D-Mark-Chauvinismus“ und „nationalistische und reaktionäre“ Thesen vor. Henryk
M. Broder kommentierte in der Welt: „Weil er die deutsche
Europa-Politik mit der Buße für den Holocaust begründet, wird Thilo Sarrazins
neues Buch verdammt, bevor es gelesen wurde.“ Sarrazin leiste sich „den Luxus
eigener Gedanken. Möglich, dass er gelegentlich spinnt. Man kann ihn dafür
kritisieren, ihm aber das Wort verbieten zu wollen, zeugt von einer totalitären
Gesinnung seiner Kritiker, die ansonsten bei jeder Gelegenheit für den ‚Dialog
der Kulturen‘ ohne Vorbedingungen plädieren.“
Der Wirtschaftsprofessor Stefan
Homburg stellte das Buch in Berlin vor. Er bezeichnete es als
„aufklärerisch“ und reich an informativen Fakten zum Euro. Es beinhalte „keine
steilen Thesen“.
Der
FAZ-Wirtschaftsjournalist Philip Plickert schrieb eine wohlwollende Rezension
des Buches unter dem Titel Ein preußischer Europäer. Sarrazin
schreibe „mehr Vernünftiges als viele seiner Kritiker“: „Seine
volkswirtschaftlichen Analysen sind fundiert, sie enthalten vernünftige,
faktenbasierte Argumente und rechtfertigen keine hysterische Kritik (etwa von
Politikern, die Auftrittsverbote im öffentlich-rechtlichen Rundfunk forderten).
Über einige Interpretationen werden Ökonomen streiten können und müssen.“
Unterlassungsklagen gegen die taz
Am 12.
September 2012 scheiterte Sarrazin mit einem Antrag beim Oberlandesgericht
Frankfurt am Main, der Zeitung die tageszeitung (taz)
durch eine einstweilige Verfügung verbieten zu lassen, die folgende
Äußerung weiter zu verbreiten: „Sarrazin wird inzwischen von Journalisten
benutzt wie eine alte Hure, die zwar billig ist, aber für ihre Zwecke immer
noch ganz brauchbar, wenn man sie auch etwas aufhübschen muss… fragt sich nur,
wer da Hure und wer Drübersteiger ist?“ Das OLG sah die Grenze zur
unzulässigen Schmähkritik noch nicht überschritten.
Im November
2012 wurde auf taz Online in der Kolumne Der
Ausländerschutzbeauftragte von Deniz Yücel bezüglich der
Person „Thilo S.“ der Wunsch ausgedrückt, „der nächste Schlaganfall möge sein
Werk gründlicher verrichten“. (Sarrazin hatte nie einen Schlaganfall.)
Der Deutsche Presserat rügte dies als Verstoß gegen den Pressekodex,
Ziffer 1. Moniert wurde, jemandem eine schwere Krankheit oder Schlimmeres zu
wünschen, gehe über eine kritische Meinungsäußerung weit hinaus und sei
unvereinbar mit der Menschenwürde. Das Landgericht Berlin befand
im August 2013, dass die taz Sarrazin wegen schwerer
Verletzung des Persönlichkeitsrechtes im Zusammenhang mit der Kolumne
20.000 Euro Entschädigung zu zahlen habe. Zudem wurde die Auflage erteilt, die
Äußerungen nicht zu wiederholen.
Compact-Konferenz
Sarrazin war
am 23. November 2013 in Leipzig ein Redner der „Compact-Konferenz für
Souveränität“. Im Vorfeld dieser Veranstaltung forderte der Vorsitzende der SPD
in Schleswig-Holstein, Ralf Stegner, Sarrazin deswegen zum Austritt aus
der SPD auf. Wegen der Teilnahme an der Veranstaltung verübten Mitglieder
einer linksautonomen „Initiative gegen Rassismus und Homophobie“
einen Farbanschlag auf Sarrazins Haus in Berlin. In einem im Internet
veröffentlichten Bekennerschreiben begründeten sie, die Konferenz unter dem
Motto „Werden Europas Völker abgeschafft?“ sei „rassistisch, antifeministisch
und homophob“.
Der neue Tugendterror
In seinem im
Februar 2014 erschienenen Buch Der neue Tugendterror. Über die Grenzen
der Meinungsfreiheit in Deutschland legte Sarrazin seine zuvor schon
in diversen Vorträgen vertretene Position dar, in Deutschland schränke ein
„Gleichheitswahn“ die Meinungsfreiheit ein. Zu den „Axiomen des
Tugendwahns“ gehöre das Axiom „Das klassische Familienbild hat sich überlebt.
Kinder brauchen nicht Vater und Mutter“, womit er die gleichgeschlechtliche
Ehe kritisiert. Der „Gleichheitswahn“ führe zum „Tugendterror“, wie er
sich in der Französischen Revolution und im Stalinismus zeige.
Die „Vorstellungen der 68er“ seien „marxistisch“. Sie stünden damit
ebenfalls in der Tradition dieses „Tugendterrors“. Eine links von der Mehrheit
stehende „Medienklasse“ bediene sich der Sprache einer „politischen Korrektheit“,
die Sarrazin im Kapitel „Dekadenz der Sprache – Dekadenz des Denkens“ unter
Rückgriff auf George Orwells Roman 1984 erklärt.
Feindliche Übernahme
Nach einem
Streit über den Erscheinungstermin sowie über ein Kapitel seines Buchs Feindliche
Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht kündigte
die Verlagsgruppe Random House ihren bestehenden Vertrag mit
Sarrazin. Auf seine gerichtliche Klage hin bestätigte die Verlagsgruppe vor dem
Landgericht München, dass Sarrazin sich nicht, wie von ihr behauptet, einer
gutachterlichen Prüfung des Buchs verweigert habe. Das Buch erschien Ende
August 2018 im FinanzBuch Verlag der Münchner Verlagsgruppe, die zu Bonnier Media
Deutschland gehört. In der 37. Kalenderwoche 2018 erreichte der Titel auf
Anhieb Platz 1 der „Spiegel-Bestsellerliste“. Anlässlich der
Buchveröffentlichung fragte der Stern-Journalist Arno Luik, ob nach
Sarrazins Ansicht schiffbrüchige Flüchtende im Mittelmeer ertrinken sollten.
Sarrazin antwortete:
„Je
geringer der Pullfaktor ist, desto weniger Menschen ertrinken im Mittelmeer.
Der durch Angela Merkel erzeugte Pullfaktor hat die Zahl der Ertrinkenden nach
oben getrieben. Die Menschen gehen nicht mehr aufs Mittelmeer, wenn sie wissen,
dass es auf der anderen Seite nichts für sie zum Holen gibt. Wenn dieses Wissen
da ist, ertrinkt auch keiner mehr.“
Drittes Parteiordnungsverfahren und
Ausschluss aus der SPD
Am 17.
Dezember 2018 beschloss der SPD-Parteivorstand, ein drittes
Parteiordnungsverfahren gegen Sarrazin einzuleiten. SPD-Generalsekretär Lars
Klingbeil teilte mit, Grundlage für die Entscheidung sei der Bericht einer
Untersuchungskommission zu Sarrazins zuvor getätigten Äußerungen und
Veröffentlichungen. Die Kommission sei zu dem Schluss gekommen, „dass Sarrazin
Thesen propagiert, die mit den Grundsätzen der SPD unvereinbar sind, und der
Partei schweren Schaden zufügt“. Sarrazin hatte zuvor erklärt, er fühle sich in
der SPD „nach wie vor gut aufgehoben“. Im Juni 2019 wurde über den Antrag
der Parteispitze verhandelt, am 11. Juli 2019 gab die
Parteischiedskommission Charlottenburg-Wilmersdorf dem Antrag auf
Parteiausschluss statt. Gegen die Entscheidung legte Sarrazins Anwalt
Berufung vor der Landesschiedskommission ein. Am 23. Januar 2020
bestätigte diese den Ausschluss. Sarrazin kündigte daraufhin an, die
Entscheidung vor der Bundesschiedskommission anzufechten. Am 31. Juli 2020
hat die Bundesschiedskommission der SPD Sarrazin wirksam aus der SPD ausgeschlossen.
Thilo Sarrazin ist seit diesem Tag nicht mehr Mitglied der SPD. Zum Schutz
des Ansehens und der Glaubwürdigkeit der SPD sei der verhängte Parteiausschluss
rechtmäßig, da Sarrazin erheblich gegen die Grundsätze und die Ordnung der
Partei verstoßen und ihr damit Schaden zugefügt habe. Gegen die
Entscheidung ist eine zivilrechtliche Klage möglich, in der Sarrazin der SPD
einen Verfahrensfehler nachweisen müsste. Bis zu einer gerichtlichen
Überprüfung ist Sarrazin kein SPD-Mitglied. Sarrazin kündigte eine solche Klage
vor dem Landgericht Berlin an. Im Juli 2020 wurde bekannt, dass Sarrazin
seinen Parteiausschluss doch nicht vor Gericht anfechten wolle. Er habe sich
die Frage gestellt, ob er als junger Mann in die heutige SPD eingetreten wäre.
„Die Antwort ist ein klares und eindeutiges Nein.“ Darum habe er entschieden,
nicht mehr weiter gegen den Ausschluss vorzugehen, berichtete die dpa.
Nach
dem russischen Überfall auf die Ukraine kritisierte Sarrazin 2022 das
nach seiner Sicht zögerliche Ausschlussverfahren gegenüber Altkanzler
Schröder wegen dessen Nähe zu Wladimir Putin. Anscheinend sei Kritik
am Islam für die SPD schlimmer „als die Unterstützung für einen brutalen
Diktator wie Putin“, sagte Sarrazin der Bild. Für ihn stehe fest,
„dass in meinem Fall und im Fall Gerhard Schröders die Entscheidung nicht ohne
Abstimmung mit Parteivorstand und Parteivorsitz zustande gekommen“ sei.
Veröffentlichungen
·Ökonomie und Logik der historischen Erklärung. Zur
Wissenschaftslogik der New Economic History. Bonn 1974.
·Krise und Planung in marxistischer Sicht: Das Beispiel
Habermas. In: Hamburger
Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. 19, 1974, S.
293–318 (zusammen mit Manfred Tietzel).
·Investitionslenkung: „Spielwiese“ oder „vorausschauende
Industriepolitik?“ Bonn-Bad Godesberg 1976 (als Herausgeber).
·Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie I/II. Bonn 1975/1976
(als Mitherausgeber).
·Theorie und Politik aus kritisch-rationaler Sicht. Bonn 1978 (als
Mitherausgeber).
·Beiträge zur Sozialpolitik. Bonn 1978 (als
Herausgeber).
·Der Euro: Chance oder Abenteuer? Bonn 1997.
·Reform der Finanzverfassung. Bonn 1998.
·Der Euro. Bonn 1998.
·Ansatzpunkte für eine europäische Arbeitsmarkt- und
Beschäftigungspolitik. Bonn 1999.
·Gestaltung der Zukunftsfähigkeit Berlins in Zeiten knapper
Kassen. Berlin
2004.
·Regionale bzw. kommunale Entwicklungen im Bereich der
Wohnungs- und Städtebaupolitik. Domus, Berlin 2007, ISBN
978-3-87169-543-8.
·Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e. V. (Hrsg.): Neue Wege zu einer angemessenen Finanzverteilung im
Bundesstaat. Münster 2008, DNB 992175445.
·Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel
setzen.
Deutsche Verlags-Anstalt, 2010, ISBN 978-3-421-04430-3. (Platz 1 der
Spiegel-Bestsellerliste vom 13. September 2010 bis zum 6. Februar 2011)
·Europa braucht den Euro nicht. Wie uns politisches
Wunschdenken in die Krise geführt hat. 1. Auflage. Deutsche Verlags-Anstalt, München
2012, ISBN 978-3-421-04562-1. (Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste
vom 4. bis zum 24. Juni 2012)
·Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit
in Deutschland. 1. Auflage. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014, ISBN
978-3-421-04617-8. (Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste vom 10. bis zum
23. März 2014)
·Wunschdenken. Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum
Politik so häufig scheitert. 1. Auflage. Deutsche Verlags-Anstalt,
München 2016, ISBN 978-3-421-04693-2. (Platz 1 der
Spiegel-Bestsellerliste vom 30. April bis zum 20. Mai 2016)
·Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt
behindert und die Gesellschaft bedroht. 1. Auflage. FinanzBuch Verlag, München
2018, ISBN 978-3-95972-162-2.
·Der Staat an seinen Grenzen: Über Wirkung von Einwanderung
in Geschichte und Gegenwart. 1. Auflage. Langen Müller Verlag, Stuttgart
2020, ISBN 978-3-7844-3572-5.
·Der neue Tugendterror: Über die Grenzen der Meinungsfreiheit
in Deutschland. 1. Auflage. Langen Müller Verlag, Stuttgart 2021, ISBN
978-3-7844-3591-6.
·„Wir schaffen das“: Erläuterungen zum politischen
Wunschdenken. 1. Auflage. Langen Müller Verlag, Stuttgart 2021, ISBN
978-3-7844-3613-5.
·Die Vernunft und ihre Feinde: Irrtümer und Illusionen
ideologischen Denkens. 1. Auflage. Langen Müller Verlag, Stuttgart 2022, ISBN
978-3-7844-3641-8.
Auszeichnung
Im
November 2012 erhielt Sarrazin den von der Verlagsgruppe „markt intern“
gestifteten Deutschen Mittelstandspreis. In der Begründung hieß es, man
zeichne Sarrazin wegen seiner publizistischen Auseinandersetzung mit der Eurokrise aus,
die auch vor unbequemen Wahrheiten und Repressalien „seiner“ SPD nicht
zurückschrecke. Er habe die Konstruktionsfehler des Euro fundiert und
allgemeinverständlich herausgearbeitet und klar formulierte
Handlungsalternativen zur Lösung der Krise aufgezeigt.
Literatur
Biografische Daten
·Thilo Sarrazin im Munzinger-Archiv (Artikelanfang
frei abrufbar).
Interviews und Gespräche (Auswahl)
·Interview mit SPD-Senator Sarrazin: Mit dickem Pullover
Energiekosten sparen. In: Rheinische Post. 28. Juli
2008.
·Thilo Sarrazin im Gespräch. In: Lettre International. 86,
2009.
·Henryk M.
Broder interviewt Thilo Sarrazin. In: taz. 7. Dezember 2010.
·Özlem Topçu, Bernd Ulrich: „Boah ey, der Sarrazin!“ Begegnungen
mit „Kopftuchmädchen“ und anderen Fans: Der Bestsellerautor und Sozialdemokrat
Thilo Sarrazin über das Jahr, das sein Leben verändert hat. In: Zeit
Online. August 2011 (Interview).
Allgemeines und Einzelaspekte (Auswahl)
·Klaus Ahlheim: Sarrazin und der Extremismus der Mitte.
Empirische Analysen und pädagogische Reflexionen. In: Reihe
Kritische Beiträge zur Bildungswissenschaft. Band 5, Hannover 2011 (Rezension auf hpd.de).
·Klaus J. Bade: Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte,
„Islamkritik“ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft. Wochenschau-Verlag,
Schwalbach/Taunus 2013, ISBN 978-3-89974-893-2.
·Klaus J. Bade: Die Welt ist ungerecht. Und das ist auch
gut so! Kulturrassismus, neokonservative Sozialphilosophie und „Tugendterror“
bei Thilo Sarrazin (PDF; 678,86 kB). In: MiGAZIN. 24.
Februar 2014, S. 6.
·Naika Foroutan, Korinne Schäfer, Coskun Canan, Benjamin
Schwarze: Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand. Ein empirischer
Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Thesen zu Muslimen in Deutschland (PDF;
1632,96 kB). Berlin 2010.
·Deutschlandstiftung Integration (Hrsg.): Sarrazin.
Eine deutsche Debatte. Piper, München / Zürich 2010, ISBN
978-3-492-05464-5; Inhaltsverzeichnis (als PDF-Dokument)
und Angaben aus der Verlagsmeldung.
·Danny Oestreich: Die Erben des Sozialdarwinismus.
Argumentieren Peter Singer und Thilo Sarrazin sozialdarwinistisch? In: Die
Tabula rasa. Zeitung für Gesellschaft und Kultur. Nr. 105, November
2014.
·Andreas Kemper: Sarrazins Correctness: zur Tradition der
Menschen- und Bevölkerungskorrekturen. Unrast Verlag, Münster
2014, ISBN 978-3-89771-561-5.